Höre, Israel!

Jerzy S. Sito
Höre, Israel!
(Sluchaj, Israelu!)
Stück in 2 Teilen
4 D, 15 H, Verw - Dek
1. Teil: 4 D, 9 H
2. Teil: 4 D, 15 H

Es war in den schwierigsten Tagen des Kriegsrechts in Polen – die Solidarität war für illegal erklärt, der Dichter und Dramatiker Jerzy Sito war (wie viele andere) verboten, nicht einmal seine vielgelobten Shakespeare-Übersetzungen durften auf die Bühne gebracht werden – da hörte ich zum ersten Mal von seinen Plänen, ein neues Theaterstück über Adam Czerniakow zu schreiben. Czerniakow, Vorsitzender des Judenrats im Warschauer Ghetto, beging Selbstmord, als er gezwungen war, dem Grauen der Situation voll ins Auge zu sehen. Als Sito in den folgenden vier Jahren seine qualvolle Reise in die Hölle des Warschauer Ghettos zu den entsetzlichen Erfahrungen seiner Protagonisten unternahm, drängte sich mir die Frage auf, warum er sich entschlossen hatte, gerade dieses Thema zu dieser Zeit zu behandeln. Was verbindet einen katholischen polnischen Dramatiker, der selbst vor Problemen seiner leiblichen und künstlerischen Existenz steht, mit Adam Czerniakow und dessen Notlage?


Als ich das Stück las, wurde mir alles klar. Ich entdeckte ein Theaterstück, das ein Zwiegespräch der Gegenwart mit der Vergangenheit ist, zwischen Leben und Tod, Gut und Böse, zwischen dem Menschen und seinem Gott. Es zeigte sich, daß es nicht weniger ein Stück über das heutige Polen (oder auch ein anderes, ähnliches Land) als über das Warschauer Ghetto jener Tage ist. Es ist der persönliche, fieberhafte Aufschrei eines Mannes, der sich mit einem maßlos ungerechten und grausamen politischen System konfrontiert sieht, das sich in seinen Alpträumen in die schreckliche Todesmaschine des "Dritten Reichs" verwandelt.


Die erste Szene dieses Stückes, zum Beispiel, spielt in der Gegenwart, in der einzigen übriggebliebenen Synagoge in Warschau. Eine Gruppe alter Juden hat sich dort zu den Jom-Kippur-Gebeten versammelt, aber es fehlt ihnen die dafür vorgeschriebene Anzahl Gläubiger. Sie können nichts tun, was diese verlassene Synagoge wieder zum Leben erweckt, es sei denn die Toten – die Vergangenheit. Ohne sie wird es kein Leben in der Gegenwart geben, und mit Gewißheit keine Zukunft. Man holt die Toten von dem nahe gelegenen jüdischen Friedhof.


Für einen Augenblick scheint es, Jerzy Sito spräche nur von der Situation der wenigen in Polen verbliebenen Juden. Doch damit spricht er in Wirklichkeit vom heutigen Polen – arm, verzweifelt, rückständig, zerfallend, ohne nennenswerte Zukunft. Nur die Erinnerung an vergangene Zeiten, an die Toten - nur sie kann Stolz und Hoffnung und Leben in dieses gegenwärtige Elend zurückbringen.


Sito stellt außer fiktiven Figuren auch historische Gestalten wie Czerniakow und Dr. Janus Korczak auf die Bühne. Sie werden nur "Der Vorsitzende" (Czerniakow) oder "Der alte Doktor" (Korczak) genannt, denn: "Das Gute hat keinen Namen, im Gegensatz zum Bösen, weil Gottes Name unbekannt ist."


Wenn man Czerniakows Bemühungen verfolgt, das Ghetto und seine Bewohner selbst noch durch Geschäftsverhandlungen mit den Nazis am Leben zu erhalten, bleibt man sich der Zweifel und Fragen Sitos bewußt: wie weit kann man sich auf ein niederträchtiges System einlassen, ohne damit seine eigenen Absichten zu vereiteln oder überhaupt jeden menschlichen Anspruch zunichte zu machen?

Hier handelt es sich nicht bloß um ein weiteres Stück über den Holocaust, sondern um das Stück eines Theaterdichters: reich, ausführlich, tief - von schmerzhafter Traurigkeit, zum Heulen komisch, völlig naturalistisch, ganz und gar phantastisch und zumeist alles zusammen. Seine größte Faszination liegt in der raren Mischung von "jetzt" und "damals", von "hier" und "dort", von "Faktum" und "Erfindung".

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