Die Küste Utopias
I. Aufbruch
II. Schiffbruch
III. Bergung
Tom Stoppard
Die Küste Utopias
I. Aufbruch
II. Schiffbruch
III. Bergung
(The Coast of Utopia - I. Voyage - II. Shipwreck - III. Salvage)
Trilogie
Deutsch von Wolf Christian Schröder
12 D, 27 H, 5 K, Verw - Dek
Der Zeitraum: 1833 bis 1868. Die Schauplätze: Russland und fast ganz Westeuropa. Die erste Generation der russischen Intelligenzija bildet sich heraus, ihr linker, prowestlicher Teil radikalisiert sich angesichts des Polizeistaats von Zar Nikolaus I. und geht zum großen Teil nach Westeuropa ins Exil. Darunter sind der gemäßigte Sozialrevolutionär Alexander Herzen und Michail Bakunin, einer der Väter des Anarchismus. Ihrer beider Lebenswege verfolgt die Trilogie. Wie die Geschichte ausgeht, deren Anfänge sie uns zeigt, wissen wir. Damit spielt der Autor.
Stoppard bezieht, und insofern ist Turgenjew nicht ganz sein Alter Ego, Position – die Position Herzens. Er ist derjenige, der vor der Gefährlichkeit von Utopien warnt. Der bestreitet, dass Geschichte zwangsläufig in eine Richtung läuft und dass jedes Mittel zum Erreichen ihres vermeintlichen Zieles recht ist, um das ersehnte Unvermeidliche zu beschleunigen. Gerade das Prophetische an Herzen ist es, was ihn zur verdienten Hauptperson des zweiten und dritten Teils macht.
Und es scheint sogar, als habe die Hegel’sche Dialektik (ein wenig) auf Stoppard abgefärbt. Drei Stücke, die sich verdächtig wie These, Antithese und Synthese präsentieren. In „Aufbruch“ glauben die Helden, sie könnten Geschichte machen, in „Schiffbruch“ werden sie von der Geschichte überrollt, in „Bergung“ wird Herzen von der Zeit überrollt.
Bergung, das klingt nach „Aufgehoben“-Sein. Was aber wird geborgen? Skepsis und Hoffnung, und ihre gegenseitige Durchdringung. Ja, insofern ist das so etwas wie eine Synthese, will man den ersten Teil der Hoffnung zuschlagen, den zweiten der Skepsis.
Skepsis ist angebracht. Daher das Rückwärtslaufen bei den Auftritten im dritten Teil, das Abreißen des Seiles, an der das Geschichts- und Lebenskalb hängt, das sich nicht melken lassen will und sich losgerissen hat vom Halteseil.
AUFBRUCH
(Voyage)
Trotz des Polizeiregimes von Zar Nikolaus I. findet in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in Russland ein geistiger Aufbruch statt, der das Land für immer verändert. Eine Nationalliteratur entsteht, quasi aus dem Nichts, begründet durch Puschkin, dem in kurzer Zeit Gogol, Lermontow und später Turgenjew folgen. Westliche Ideen – und zum Westen gehört aus diesem Blickwinkel besonders Deutschland und die deutsche Philosophie des Idealismus – wirken auf die jungen Intellektuellen ein. Die russische Intelligenz formiert sich als eigene gesellschaftliche und politische Kraft. Dieser Umbruch spiegelt sich auf dem Landgut Premuchino der Familie Bakunin wieder.
Vier Schwestern (sic!), junge Mädchen, nehmen dort Anteil an diesen Entwicklungen – angeregt von ihrem Idol und gnadenlosen Mentor, ihrem charmanten Bruder, dem später berühmten Anarchisten Michail Bakunin. Er lädt Freunde zu sich auf das Gut ein, junge Männer wie den Philosophen Stankewitsch und den Literaturkritiker Belinskij, Figuren der russischen Geistesgeschichte, die noch weit ins 20. Jahrhundert hineinwirkten und von den Bolschewiki zu Recht oder Unrecht in ihre Ahnengalerie aufgenommen wurden. Aber auch Turgenjew besucht Premuchino. Die interessanten Gäste regen die Phantasie der Mädchen an – auch wenn ihre eigentliche Liebe insgeheim und keusch – ihrem Bruder gilt.
Es kommt zu einem Kampf um die Mädchen zwischen dem alten Bakunin, der seine Töchter traditionell verheiraten will, und seinem Sohn, der diese Pläne mit der Unbedingtheit und Rücksichtslosigkeit des späteren Revolutionärs im Namen eines romantischen Liebesbegriffs hintertreibt. Michail siegt. Doch er ist nicht unschuldig daran, dass seinen Schwestern die Selbstverwirklichung im persönlichen Liebesglück verwehrt bleibt. Schließlich geht Michail ins Ausland, um sich dort als Revolutionär zu betätigen. Als er von staatlicher Seite aufgefordert wird zurückzukehren, lehnt er das ab. Er wird in Abwesenheit verurteilt und muss in „Europa“ bleiben. Der Zuschauer aber ahnt, dass Utopia, das Paradies auf Erden, vielleicht eben das Gut Premuchino war, das nun ruiniert ist und das Bakunin nie wiedersehen wird.
SCHIFFBRUCH
(Shipwreck)
Im Revolutionsjahr 1848 halten sich Herzen, Bakunin und andere russische Emigranten, die der Fraktion der ,,Westler“ angehören, in Paris auf. Obwohl sie immer auf eine Revolution im Westen gesetzt haben, die dann auch Russland erfassen könnte (Frankreich als „Braut der Revolution“), werden sie von ihrem Ausbruch überrascht.
Herzen, der wohlhabend ist, führt in Paris zusammen mit seiner Frau Natalie eine Art Salon für die russische Linke im Ausland. Auch der deutsche Revolutionsdichter Georg Herwegh und Karl Marx verkehren bei ihnen. Turgenjew kommt zu Besuch und hat den todkranken Belinskij mitgebracht, der Paris sehen will, ehe er zurück nach Russland fährt.
Man spricht noch über Literatur, aber nicht mehr von Philosophie. Umso mehr von Politik: Man wirft sich gegenseitig entweder Untätigkeit oder bohèmienhaftes Verschwörertum vor.
Die Russen berauschen sich am Sturz des Bürgerkönigs, der Ausrufung der Republik, und in der Euphorie des Augenblicks tauchen bei Natalie wieder vergessene Träume auf, von freier Liebe, einer idealistischen Abkehr von den bürgerlichen Normen und allem, was sie mit Herzen, seinem Freund Ogarjow und dessen Frau Maria in Russland diskutiert hatte.
Nachdem das Parlament gewählt ist, fast alles Bürgerliche, folgt die Ernüchterung. Die Arbeiter fühlen sich um die Revolution betrogen, es kommt zu Barrikadenkämpfen zwischen ihnen und den Truppen der neuen Regierung. Die Aufstände werden blutig niedergeschlagen. Die Greuel, die Herzen dabei als Augenzeuge miterlebt, flößen ihm für immer eine Abneigung gegen Gewalt als politisches Mittel ein.
Nach der Enttäuschung wendet man sich der Familie und den Freunden zu. Im Kleinen, sagt Herzen scherzhaft, doch es ist ernst gemeint, wollten sie ihr privates Utopia gründen. Doch auch diese Utopie zerbricht: Natalie fängt ein Verhältnis mit Herwegh an. Die Idee der freien, reinen Liebe überfordert ihrer aller Gefühle, sie sind ihr nicht gewachsen.
Bei einem Schiffsunglück ertrinken Herzens Mutter und sein taubstummer Sohn Kolja, der im Verlauf des Stückes so große Fortschritte beim Verstehen und Sprechen gemacht hatte. Auch die langsame, die geduldige, die mühselige Hoffnung kann trügerisch sein. Bald darauf stirbt Natalie.
BERGUNG
(Salvage)
Die Verlierer der Revolutionen von 1848 aus aller Herren Länder sind nach England, nach London, ins Exil gegangen. Darunter Herzen, Marx und die französische Linke. Man bildet eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft und ist völlig zerstritten untereinander.
Mit polnischen Exilanten gründet Herzen die ersten russischen Zeitschriften, die nicht zensiert sind und die, nach Russland hineingeschmuggelt, im Polizeistaat von Nikolaus I. von ungeheurer Wichtigkeit für die Opposition werden. Nikolaus I. stirbt, und von Alexander II., seinem Nachfolger, erhoffen sich die russischen Oppositionellen Reformen, allen voran die Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft.
Ogarjow und seine Frau Natascha reisen aus Russland aus und kommen nach London zu Herzen, der seinen besten Freund und die beste Freundin seiner verstorbenen Frau bei sich aufnimmt. Herzen fängt mit Natascha ein Verhältnis an. Das, was ihm selbst widerfahren ist, tut er nun Ogarjow an. Trotzdem hält dieser an ihrer Freundschaft fest, und sie gründen zusammen ,,Die Glocke“, eine Zeitung, die für einige Jahre die wichtigste Stimme der Linken in Russland wird.
Turgenjew, der ungehindert zwischen Russland und dem Westen hin- und herreisen kann, macht Herzen klar, dass eine neue Generation der Intelligenzija herangewachsen ist: junge, puritanische Fanatiker, die die gesamte bürgerliche Kultur ablehnen, die „Gutsbesitzer mit schlechtem Gewissen“ wie Herzen verachten und dessen Strategie, den neuen Zaren gegen die Grundbesitzer und den Adel für Reformen einzunehmen, verschmähen. Sie sind für Reformen mit der Axt, nicht mit der Feder (wie Herzen). Mit ihnen – wie auch mit Doktor Basarow, den Turgenjew auf der Isle of Man trifft und der zum Protagonisten seines Romans ,,Väter und Söhne“ wird – betritt der Revolutionär als Terrorist, eine Abart des Nihilisten, die politische Bühne Russlands.
Die Bauernbefreiung kommt, und sie kommt durch die Feder, von oben. Herzen sieht sich bestätigt. Aber die Frage der Landvergabe wird nicht geklärt, vielen Bauern geht es schlechter als vorher, und es gibt Bauernunruhen in Russland.
Die Radikalen bekommen Oberwasser, und Herzen, der nach Genf gegangen ist, gerät ins politische Abseits, „Die Glocke“ wird nicht mehr gelesen. Herzens Kinder aber haben sich Russland, das sie kaum oder gar nicht kennen, entfremdet.
Zum Schluss treten in einem Traum Herzens noch einmal Marx und Turgenjew auf: Sie stehen für die beiden Positionen, zwischen denen sich Herzen, im Bestreben, sie zu vereinen und zu versöhnen, zerrieben hat.
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