Der Schal

David Mamet
Der Schal
(The Shawl)
Stück in 4 Szenen
Deutsch von Bernd Samland
1 D, 2 H, 1 Dek
Vor der Klarheit stehen die Erklärer. Zu John, dem Erklärer, kommt Miss A und will Klarheit. Miss A kommt zu John und will wissen: was tun? John antwortet auf ihre unausgesprochenen Fragen und überrascht Miss A mit seinen Kenntnissen ihres Lebens. Ahnung und Gegenwart und Vergangenheit: John verheißt Miss A Ausblicke und Einsichten; damit macht er sie, finanziell, zu seiner Klientin.

Auch die Erklärer haben ihre menschlichen Seiten, und Johns menschliche Seite heißt Charles. John weiht den beträchtlich jüngeren Charles in die Geheimnisse seiner Kunst ein: Hören und Sehen und Schlüsseziehen. John will von seinem Augen- und Ohrenmerk, seinem "Kunsthandwerk" leben, mit Charles leben; Charles will mithilfe von Johns Handwerkszeug ans große Geld. Doch dann wiederum läßt Charles sich überraschen von Johns Einblicken in sein Leben. Hellseherei?

John und Charles veranstalten für Miss A eine Séance, in deren Verlauf John Kontakt aufnimmt mit einer Toten aus dem 19. Jahrhundert, die ihm als Medium dient zum Kontakt mit der verstorbenen Mutter von Miss A. Was war mit dem roten Schal, in den die Mutter Miss A als Kind eingehüllt hat? Warum fühlt sich Miss A im Testament ihrer Mutter zugunsten ihres Stiefvaters übergangen, so daß sie erwägt, es anzufechten? Ehe es zu klaren Antworten kommt, überrascht Miss A ihre Hellseher mit der Erkenntnis, sie seien Schwindler und Hochstapler.

John trennt sich von Charles, weil er sieht, daß dieser sich nicht von seinem Glauben an Johns übersinnliche Fähigkeiten abbringen läßt, während John sich doch nur auf seine wachen Sinne verläßt.

Miss A erscheint zum verabredeten Termin bei John mit dem Entschluß, das Testament anzufechten. In dieser Sache hat sie, mit John sozusagen als Katalysator, Klarheit gewonnen. Offen bleibt, wie John die Sache mit dem Schal wissen konnte. Antworten führen zu Fragen. Und Johns Schlußsatz: "Mehr habe ich nicht gesehen" könnte, wie seine Eröffnungswendung "...Sie sehen:", der Anfang einer neuen "Drehung der Schraube" sein.

Des Rätsels Lösung erweist sich als ein neues Rätsel. Nur eines ist wirklich klar: jeder im Spiel setzt seine Mittel ein, um den eigenen Vorteil zu erkämpfen. Das Spiel mit abgebrochenen Sätzen, Atempausen, rhetorischen Finten, vorweggenommenen Antworten auf unausgesprochene Fragen ist dazu die ideale formale Entsprechung. Hier ereignet sich in einem anderen Medium, was Mamet in seinem Film HAUS DER SPIELE so glänzend gelungen ist: während sich die Figuren auf der Bühne gegenseitig aufs Glatteis führen, werden auch die Zuschauer aufs Glatteis geführt – auf das der Kunst.

Auf daß der Kunst Mamets neue neugierige Zuschauer in die Falle gehen. Und sich in der Kunstfalle, die das Theater bestenfalls sein kann, fragen: Wie erfahren wir und was machen wir mit unseren Erfahrungen? Welche Schlüsse können wir ziehen aus dem, was wir hören und sehen?

Die Botschaften aus dem Jenseits sind tief verwurzelt im Diesseits. Ein helles Spiel im Dunkeln. Auch eine Dialektik der Aufklärung.


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