Das Kryptogramm

David Mamet
Das Kryptogramm
(The Cryptogram)
Stück in 3 Akten
Deutsch von Bernd Samland
1 D, 2 H, 1 Dek
Fest steht wenig.

Chicago 1959. Ein Wohnzimmer. Donnys 10/11jähriger Sohn John kann nicht schlafen. Donny wartet mit ihm und Del, dem alleinstehenden Freund der Familie, auf die Heimkehr ihres Mannes Robert. Der Vater wollte mit dem Sohn am nächsten Tag einen Jagdausflug machen. Am Ende des ersten Teils steht die Nachricht, daß Robert die Familie für immer verlassen hat. Im zweiten Teil, am nächsten Abend, stellt sich heraus: Del wußte nicht nur, daß Robert seine Frau betrogen hat; er hat seinen Freund sogar gedeckt und ihm auch sein Zimmer zur Verfügung gestellt. Donny wirft Del raus. John hat Angst, ins Bett zu gehen, schlafen zu gehen, Angst vor seiner Schlaflosigkeit.

Im letzten Teil, einen Monat später, sitzen Donny und John auf gepackten Koffern und Umzugskartons. Sie werden das Haus verlassen. Del kommt als reuiger Sünder, bittet um Vergebung, sucht die Versöhnung und versucht sich als Tröster der Betrogenen. Doch auch er ist betrogen worden. Donny erklärt ihm: Roberts Pilotenmesser, das er seinem Freund Del zum Geschenk gemacht hatte, ist nicht das persönliche Beutestück und Kriegsandenken, für das es immer galt, sondern es stammt vom Trödel, ist also wertlos. Del gibt John das für ihn entwertete Andenken.

John geht mit dem Messer die Treppe hinauf. Er hat Angst, er kann nicht schlafen, und ob er mit dem Messer nur die Schnüre um eine Kiste zerschneidet, erfahren wir nicht mehr.

Die Entwirrung der Gefühle ist ein Verwirrspiel, aber keine Geheimniskrämerei. Überraschend an diesem Stück ist eine neue Qualität, eine neue dramatische Dimension. Konnte man sagen, daß Mamets bisherige Stücke Machtspiele im Hier und Jetzt waren, so bringt er nun das Entsetzen seiner Figuren auf die Bühne, die feststellen müssen, daß sie eine Vergangenheit, eine Geschichte haben. Und doch nicht wissen, an welchem Punkt ihres Lebens sie ihr Glück verfehlt haben. Der Schlüssel zum Kryptogramm ihres Lebens liegt in der Vergangenheit verborgen, die mit bestimmten alltäglichen Dingen - Messer, Buch, Foto, Decke - präsent wird; doch obwohl sie das ahnen, gelingt es ihnen doch nicht einmal in Ansätzen, ihre Vorgeschichte zu erzählen, geschweige denn, sie zu verstehen. Noch die beiläufigste Gesprächsäußerung wird zum Stolperstein des gegenseitigen Verständnisses, ja, der Verständigung. Und es gibt nichts, woran man sich halten kann.

Ein Stück über den Schock und das Grauen der Erkenntnis, der Erkenntnis der Bedeutung von Zeit. Erschrecken die Erwachsenen über die nicht faßbare Vergangenheit, erschrickt der Junge John über die Ahnung der Zukunft, die nicht einfach die verlängerte Gegenwart ist. Er entdeckt die Zeit. Die Kindheit ist vorbei. Es war einmal jetzt ist es anders. Und daß Donny mehr die Wut als den Schmerz über den Verlust ihres Mannes an ihrem Sohn und an Del ausläßt, macht John, der den Verlust des Vaters beklagt, zum unschuldigen Opfer der Erwachsenen. Während Donny und Del sich wahrscheinlich auch mit der Last ihrer Vergangenheit weiter durchs Leben wurschteln werden, bleiben John nur die Angst und das Überlebensmesser. Die kann ihm keiner nehmen.


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