Preußisch Blau
I. Preußisch Blau
II. Tuchfühlung
III. Restloch
Kerstin Hensel
Preußisch Blau
I. Preußisch Blau
II. Tuchfühlung
III. Restloch
Drei Einakter
1 D, 1 H, 3 Dek
Drei Grotesken in einem Stück, drei Situationen von erotischer und zeitgeschichtlicher Spannung, komisch und tragisch, und erst alle drei Teile zusammen ergeben, was Kerstin Hensel über Preußen zu sagen weiß, dieses merkwürdige Konglomerat, das bis in unsere Tage nicht ausgespielt hat, aufgemotzte Geschichte und mörderische Ideen, schlechte Gewohnheiten und ausgedachte Tugenden, Bedeutungssucht und klägliche Gegebenheit.
I. Preussisch Blau
Das erste Teilstück spielt in einem Maleratelier im Berlin des Jahres 1871, als Preußens Glorie zum deutschen Maß erklärt war.
Friedrich Wilhelm August Krüger betritt sein Atelier, um den Auftakt für sein Gemälde zum Ruhme Preußens und zu seinem eigenen Weltruhm zu feiern, da er nun seinen Onkel, den berühmten Pferdemaler in den Schatten stellen wird. Aber die Frau, das Modell, seine holde Preuße, die er zu schweigen zwingt, bringt ihn aus dem Konzept – wie auch der Lärm der neumodischen Eisenbahnen und der Lärm der Stadt und die Rezeptur des Malgrundes, wenn sich Hasenhautleim mit Wasser und Ei zum haltbaren Grund seiner Kunst mischen soll. Indem er diesen Verführungen und Widerwärtigkeiten des wirklichen Lebens entgegentritt, wird er aus seiner idealen Vorstellung von sich als Künstler gerissen, von seinem "Rendezvous des Ruhmes" abgebracht und schließlich selbst vernichtet. Das Modell, die Frau, agiert wortlos, es ist ihr lebendiges Dasein, das ihn seine Nichtigkeit begreifen läßt.
II. Tuchfühlung
Das zweite Teilstück spielt in einer Turnhalle in Lieberose 1976 in der DDR.
Als die Pionierleiterin Rosa Wimmer im Blauhemd der Freien Deutschen Jugend die Turnhalle betritt, um den Auftritt des Spielmannszuges vorzubereiten, ist schon jemand im Raum. Es ist ihr ehemaliger Sportlehrer Wendland, der entlassen wurde, weil er seiner Schülerin Rosa, die nie über den Bock kam, zuviel Aufmerksamkeit widmete. Wendland, der den Ausreiseantrag gestellt hat, der Schulverbot hat: Rosa ist in höchster Verlegenheit. Will er sich von der Turnhalle verabschieden? Oder von ihr?
Will er sie bloßstellen, lächerlich machen, sie zur Rede stellen oder mitnehmen?
In dieser Situation ist es Wendland, der schweigt, zuerst aus Angst, später, weil sein Schweigen Rosa provoziert nachzudenken und ihr falsches Leben in Frage zu stellen.
Je heftiger sie sich gegen ihn wehrt, umso fragwürdiger wird ihr ganzes Lebensgebäude.
III. Restloch
Die Grotesken zu Preußens Ruhm erreichen ihren Höhepunkt, wenn im giftigen Schlamm eines Tagebaurestlochs bei Spremberg im Jahre 2001 die ihrer Arbeit enteignete Agraringenieurin Katja und der fünfzig Jahre vorher des Grund und Bodens enteignete Albrecht von Nochten aneinandergeraten.
Katja sucht bei Nacht und Matsch nach dem Sinn des Lebens, ihrer vergeblichen Arbeit, der längst der Boden entzogen war: diesen Schlamm zu begrünen steht nicht in ihrer Macht. Der aus dem Westen "heimgekehrte" von Nochten bewacht seinen wieder-gewonnenen Grundbesitz, der vorher seinen preußischen Vorfahren bei der SS, dann den Lausitzer Bauern und zuletzt dem Lausitzer Braunkohlentagebau gehört hatte. Da er sich fest und bewaffnet auf sein Eigentum stellt, verschlingt es ihn, er beginnt zu versinken. Die über die Oder kommenden Immigranten werden ihm nicht helfen und Katjas wilde randalierende Söhne auch nicht. Von der Pistole bedroht, vom Versprechen blühender Landschaften und Arbeit auf Lebenszeit korrumpiert, zieht Katja den Eigentümer aus dem Sumpf. Es kommt zum Kampf auf Leben und Tod. Während der von Nochten durch den alten Schlamm kriecht und eine neue Wirbelsäule zu kaufen sucht, hat die karategeübte Katja mit einer Kugel des Eigentümers im Kopf die Szene verlassen, um selbstbewußt zu sterben.
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