Immer mit der Zeit

Richard Greenberg
Immer mit der Zeit
(Eastern Standard)
Komödie in 2 Akten
Deutsch von Bernd Samland und Karin Kersten
3 D, 3 H, Verw - Dek
Frühling 1987 in Manhattan. An zwei Einzeltischen treffen sich in einem schicken Restaurant vier "young urban professionals".

Stephen Wheeler, Dreißig, ein erfolgreicher Architekt, den seine Arbeit – die Verschandelung der Stadt – ankotzt, hat seinen alten Collegefreund Drew Paley, fast Dreißig, zum Lunch eingeladen, um ihm die schöne junge Frau zu zeigen, die seit Wochen täglich zum Lunch kommt und die er nicht anzusprechen wagt.

Drew Paley, ein erfolgreicher Künstler, kann den Kunstbetrieb, und damit das Leben, nur noch mit liebenswürdigem Zynismus betrachten.

Leicht verspätet kommt Phoebe Kidde, fast Dreißig, erfolgreiche Börsenmaklerin, die durch ihren Geliebten Loomis in einen Insiderskandal verwickelt ist, auch heute; aber zu Stephens Entsetzen und Drews Freude setzt sich ein junger schöner Mann zu ihr an den Tisch. Erst am Ende des ersten Aktes erfährt Stephen zu seiner Beruhigung, daß es sich um Phoebes Bruder Peter, Ende Zwanzig, handelt;

Peter ist ein erfolgreicher TV-Autor, den der Zwang, seine Fernsehserien bis zur Ausgewogenheit verwässern zu müssen, frustriert; außerdem ist er, wie er nur seiner Schwester gesteht, HIV-infiziert.

In der dritten Szene des ersten Akts geht die in den ersten beiden Szenen als Nacheinander dargestellte Fast-Gleichzeitigkeit in wahre Gleichzeitigkeit über. An einem dritten Einzeltisch nämlich sitzt May Logan, zwischen Fünfzig und Sechzig, eine verdreckte New Yorker Stadtstreicherin, die eigentlich nur in Ruhe ihr Perrier trinken wollte, aber schon die ganze Zeit durch obszöne Bemerkungen auf sich aufmerksam gemacht hat. Ellen, die noch sehr junge Kellnerin, die Schauspielerin sein möchte, hat alle Hände voll zu tun, eine Katastrophe zu verhindern.

Die ist aber nicht mehr aufzuhalten, als die schizophrene May eine Flasche durchs Lokal schleudert. In der entstehenden Schlägerei lernen die jungen schönen Menschen nicht nur einander kennen, sondern spüren auch einen Hauch der verdrängten Wirklichkeit.

Fazit: Die Stadt macht krank; nichts wie weg ins einfache Leben auf dem Land.

Einen Monat später, im Sommer und im zweiten Akt, befinden sich alle Vier in Stephens Strandhaus, das er selbst gebaut hat. Stephen hat sich von seiner Firma auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen; Phoebe will Abstand von Loomis und der Börse gewinnen; Peter plant seinen Dauerabschied von der Welt; und Drew möchte Nähe gewinnen: zu Peter.

Alles wäre in Butter, wenn nicht Stephen, wie mit dem ständig schlechten Gewissen eines 68ers, der sich für jeden Dreck verantwortlich fühlt, auch Ellen eingeladen hätte.

Nicht genug: Ellen bringt May mit, eine verwandelte May allerdings: Medikamente halten ihre Schizophrenie in Schach, und zum Vorschein kommt eine liebenswürdige, lebenskluge und erfahrene Frau. Statt zur befürchteten zweiten Katastrophe kommt es zu einem Fest der Versöhnung: alle Menschen werden Brüder/Schwestern; ein richtiges Leben ist planbar, also auch machbar.

Keine Feier ohne Kater. Am nächsten Morgen ist May unter Mitnahme sämtlicher Wertsachen verschwunden. Und den jungen schönen Menschen dämmert: es gibt keine Flucht. Sie stoßen an mit saurem Wein und Sand in den Gläsern auf die Rückkehr in die Stadt. Das ist keine Feier von Strategen der Vergeblichkeit, sondern eine halbwegs nüchterne Einschätzung des wirklichen Lebens, das – wie Stephen es formuliert – aus Enttäuschungen, Kompromissen, Lügen und betrüblich seltenen Glückszuständen besteht.

Kein Lehrstück, sondern eine Komödie, und vielleicht deshalb doch ein Lehrstück. Mehr als nur ein Katalog der Krankheiten und Probleme der 80er Jahre, die uns ja auch bis heute nicht loslassen. Vielmehr das, was deutschen Autoren meist nicht gelingen will: ein Stück, das mit einem an Oscar Wilde geschulten Witz zeigt, wie außer dem Schein doch das Sein das Bewußtsein bestimmt. Und dies alles, ohne in den Untiefen teutonischer Bedeutungsschwere zu stranden.

Der Originaltitel "Eastern Standard" bezeichnet nicht nur die Zeitzone der US-Ostküste, sondern auch das dort vorherrschende Normalverhalten. Aber inzwischen werden die Rückkehrer vom Strand auch der Sand im Stadt-Getriebe sein.

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