Singer

Peter Flannery
Singer
(Singer)
Ein Stück in 5 Akten, Prolog und Epilog
Deutsch von Gert Heidenreich
6 D, 15 H, 1 K, Verw - Dek
Dies ist die Geschichte des polnischen Juden Peter Singer, der Zahnarzt werden wollte. Dort, wo in seinem Lebensplan „Universität“ stand, stand in seiner Lebenswirklichkeit „Auschwitz“. Hier beginnt das Stück von Peter Flannery, das am 27. September 1989 in Stratford-upon-Avon uraufgeführt wurde und seither – in London angelangt – die Theaterszene bewegt wie kein anderes. Die Kritik: Jubel oder Verachtung.

Peter Singer überlebt Auschwitz. Er hat gelernt: Wenn du nicht gefressen werden willst, mußt Du fressen – Scheiße, Demütigung; wenn du nicht untergehen willst, mußt du andere ausbeuten. Peter Singer hat ein Auschwitz-Examen in der Tasche, als er nach Kriegsende zusammen mit zwei Freunden aus dem KZ als Flüchtling englischen Boden betritt.

Eine beispiellose Karriere beginnt. Daß der Mensch ein Dach überm Kopf braucht, ist eine der wichtigsten Bedingungen für Kapitalbildung – Peter Singer weiß das und nutzt es. Sein Lager-Freund Stefan, der Maler, wendet sich von ihm ab, malt seine Erinnerungen. Sein Freund Manik, durch SS-Schläger irr gemacht, wird ihm zum lästigen Faktotum. Singer triumphiert. Die britische Staatsbürgerschaft winkt, der Adel interessiert sich für den reichen Singer – da holt ihn das Böse, das er bewirkt hat, ein. Alle Hoffnung ist zerschlagen. Singer ertränkt sich in einem See in Hampstead.

Peter Flannery läßt seine merkwürdige Hiob-Gestalt wiederauferstehen. Als Kunstliebhaber – und Liebhaber der Erinnerung – findet Singer den Freund Stefan wieder. Auf der Suche nach dem KZ-Schergen, der ihn in Auschwitz gequält hat, gerät er an dessen Tochter, die – nichtsahnend – sich in Singer verliebt. Auch er empfindet zum ersten Mal seit seiner Leidenszeit im KZ wieder Liebe und schöpft Hoffnung auf ein neues Leben. Die Begegnung mit dem Vater der Geliebten zerstört die Hoffnung: der Sadist erinnert sich nicht an sein Opfer. Singer wendet sich den Armen und Entrechteten zu, betreibt eine Suppenküche. Ganz unten ist Singer, der Engel der Obdachlosen, als Großbritannien sich seiner erinnert. Aufschwung ist angesagt: „Singerismus“ – nicht schwer, dabei an Thatcherismus zu denken... Singer, der sein schlechtes Leben als Wohltäter ohnehin kaum mehr erträgt, ist wieder gefragt. Das Stück neigt sich dem Anfang zu. Und es braucht den Selbstmord des manischen Malers der KZ-Erinnerung, Stefan, um Singer zu belehren, daß er in Auschwitz nicht das Leben gelernt hat, sondern den Tod.

Als ich Peter Flannery's Stück „Singer“ zum erstenmal las, kam die Erinnerung an den Frankfurter Fassbinder-Skandal auf. „Singer“ ist das härtere Stück. Es riskiert mehr an antisemitischen Vorurteilen, und es zerstört sie gründlicher. Es bricht durch das Verfremdungsmittel Chor – bei Flannery als Solofigur – die chronologische Dramaturgie im Leben Singers: „Chorus“ hebt die Geschichte des Juden, der mit seinem Überleben im KZ nicht fertig wird, auf die Ebene einer klassischen Tragödie. Flannerys Stück steht in der Traditionslinie von „Shylock“ und „Nathan“, deren Fortschreibung nach Auschwitz in „Singer“ mündet, dem zerstörten Menschen, der den Zerstörern zum Vorbild gerät.

Das Stück, das von der Entstehung des rücksichtslosen Kapitalismus aus dem KZ erzählt, macht es dem Zuschauer nicht leicht: Es enthält zahlreiche Fallen für Wohlmeinende, biedert sich scheinbar mit Rassisten an, um sie bloßzustellen; es ist gemein, komisch, tragisch, zynisch und sentimental.

Peter Singer kurz vor Schluß, auf die Frage seines Freundes, des Erinnerungs-Malers Stefan, was denn nun, nach allem, die Wahrheit sei:

„Die Wahrheit ist das KZ. Auschwitz war die Wahrheit! Es hat mir alles beigebracht, was ich über mich wissen mußte. Dort wurde ich, Peter Singer, geboren!“

Flannerys Singer ist eine exemplarische Figur im Nachkriegs-Europa. Der Jude, nach Belieben benutzt als Opfer, Verbrecher, Sündenbock und Held. Was immer er zu lernen sucht, um angenommen zu werden, wird gegen ihn ausgelegt. Und wenn er dies begriffen hat, ist die Schlußfolgerung daraus wiederum gegen ihn verwendbar. Auf diese Weise ewig schuldig in der Zwickmühle, ist er der ideale Kontrapunkt in der Unschuldsmelodie Europas.

Die Übersetzung folgt, in Absprache mit dem Autor, nicht durchgängig der 1989 bei Nick Hern Books, London, publizierten Buchfassung. Zum Teil wurden Änderungen der Bühnenfassung der Royal-Shakespeare-Company übernommen, zum Teil Anregungen berücksichtigt, die Peter Flannery in Gesprächen Anfang August 1990 gegeben hat.

Die 85 Figuren des Stücks wurden in der Uraufführung von 15 Herren, 6 Damen, 1 Kind gespielt. Da diese Mehrfachbesetzung ihre Probe bestanden hat, wird ihre Struktur der Übersetzung beigefügt.

Gert Heidenreich

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