Lebensfrei

Doris Reckewell
Lebensfrei
Stück in 13 Szenen
1 D, 1 H, St, 1 Dek
In Doris Reckewells dritten Stück, "Lebensfrei", geht es um Erfahrungen mit dem Sterben und dem Tod. Die Hauptfigur, ERNA, lebt in einem Altersheim:


ERNA:   (sitzt in einem tragbaren Schwitzkasten: nur ihr Kopf ist zu sehen, ihr Haar ist mit einer durchsichtigen Plastikhaube bedeckt; vor ihr auf dem flachen Dach des Schwitzkastens liegen verschiedene Utensilien, u.a. eine Fernbedienung, verschiedene Pillen, ein Rezeptbüchlein, eine Kleenexpackung; in ihrem Blickwinkel steht ein laufender Fernsehapparat, meist ohne Ton, es sei denn, HERR RÜEDI macht ihn mal lauter, um bestimmte Aussagen zu hören, oder ERNA spielt mit der Fernbedienung herum; auf einem Stuhl sitzt HERR RÜEDI und sieht fern: überall Stapel von Zeitungsausschnitten.)

Hirnarteriosklerose. Hirn-ar-te-ri-o-skle-ro-se.

(HERR RÜEDI sieht ERNA entsetzt an, geht zu ihr, faßt ihr auf die Stirn, geht dann ab; ERNA läßt sich davon nicht unterbrechen, sondern spricht weiter.)

Leider nicht mein Wort. Gehört hier uns allen, hat meine Tochter gesagt, und muß sich dann geschämt haben, denn beim nächsten Besuch brachte sie den roten Cashmereschal mit, dabei war rundherum kein Muttertag zu sehen. Hirnwas, fragt mich Frau Schulthammer immer, dabei läuft ihr die Angst aus dem Mund wie ausgekotzter Himbeerkuchen.

Dann dreht sie sich um und schreit: ich muß nach Hannover, mein Sohn hat mich in die Oper eingeladen. Was wird denn gespielt, rufe ich ihr nach. Aber das wissen Sie doch, ruft sie vom anderen Ende des Ganges, König Hihirsch,

König Hihirsch, König Hihirsch. Immer schneller, immer schneller ruft sie es.

Ich weiß ja schon, was kommt, aber der eine oder andere Besucher ist doch etwas benommen, weil sie schreit, als hätte ein Torero ihr eine Lanze in den Nacken gestoßen. Dann, aus dem Stand, klatscht sie sich die rechte Hand mit voller Wucht vor den Mund. Sie will ja nicht, daß der Hirsch ihr aus dem Mund springt und im Dickicht verschwindet. Schließlich ist er der König der Hirsche, und den trifft man nicht alle Tage. Aber immer haut sie sich zu spät auf ihr Zuckermäulchen. Der Mond verschwindet hinter einer Wolke, und wenn er wieder hervorkommt, ist die Lichtung leer, nur silbrig-zitternde Grashalme dort, wo er gestanden hat. Naß an Leib und Seele steht sie wieder vor mir und flüstert: er ist fort.

Ich sage dann nur: Sie sind falsch eingestellt, Frau Schulthammer. Bin ich nicht, bin ich nicht, schreit sie so lange, bis ihr die Worte mit Spucke verlaufen oder Sie, Herr Rüedi, keuchend auf uns zugelaufen kommen. Dabei schwappt Ihnen Ihre lange weiße Schürze mit so viel Würde über die Schuhe, daß man Ihnen einfach anmerkt, daß Sie Kellner im Grand Hotel Dolder in Zürich waren. Wenn Sie Frau Schulthammer wie ein Häufchen Elend auf dem Fußboden hocken sehen, beugen Sie sich hinab, ziehen sie vorsichtig hoch, sagen: Aber Ruthchen, was ist nur wieder los heute, und geleiten sie aus dem Speisesaal. Sie sind eben ein äußerst korrekter Mann, wie es sich für einen ehemaligen Kellner der Schweizer Luxusgastronomie gehört.


Erna erzählt Herrn Rüedi, der in der Küche des Heims angestellt ist, aus ihrem Leben, bedrängt ihn mit Fragen, die sie sich früher nie gestellt hat und die ihr jetzt das Leben schwer machen.

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