Der Fall des Hauses Plantagenet

Rolf Schneider
Der Fall des Hauses Plantagenet
37 Szenen nach William Shakespeare
2 D, 14 H, Verw - Dek
Das Verfahren, acht abendfüllende Theaterstücke oder insgesamt vierzig Dramenakte auf eine etwa vierstündige Schauspielveranstaltung einzukürzen, mag zunächst wie Barbarei erscheinen. Motive und Vorzüge liegen freilich auf der Hand. Welches Theater ist schon in der Lage, sämtliche Königsdramen Shakespeares ungekürzt und hintereinander zu geben? Wer die Königsdramen alle erleben will, muss sie demnach lesen. Wer die Königsdramen alle auf dem Theater erleben will, muss mit einem Konzentrat vorliebnehmen.

Die Schwierigkeit, die mir mein Vorhaben stellte, war eine vorwiegend formale. Wie ließen sich die von Shakespeare aufgebotenen Stoffmassen bändigen? Ich habe, wie zu sehen, mich mit einem Narren beholfen, der zwar in vielen anderen Stücken Shakespeares vorkommt, nicht aber in den Königsdramen. Oder doch? Es war der Berliner Anglist Robert Weimann, der als Erster darauf aufmerksam machte, dass Richard III. jene Haltung des Räsonierens und Kommentierens einnimmt, wie sie sonst die Narren haben; der Narr aber ist artverwandt mit der Figur des Vice, des Lasters, in den Moralitätsspielen, die dem elisabethanischen Theater vorangingen und aus denen es herauswuchs.

Die geschichtliche Logik (wenn es denn eine ist), die wir offerieren, lautet: Alle Metzeleien der Nachfolger des dritten Edward laufen auf den dritten Richard hinaus, derart, dass sie ihm die Modelle liefern und dass sie ihn chronologisch bedingen. Historie als stupider Kreislauf, mit der menschlichen Biologie als einzigem Regulativ. Ich glaube, genau so hat es Shakespeare gemeint.

Insgesamt hat er sich in neun Theaterstücken zur britischen Geschichte des Spätmittelalters und der Renaissance geäußert. Eines davon, „König Johann“, schildert das Schicksal eines Herrschers aus dem Hause Plantagenet, der um 1200 regierte. Die anderen Dramen messen einen geschlossenen zeitlichen Raum aus, der mit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts anhebt und mit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts abschließt; dies sind die für Englands innenpolitisches Schicksal bedeutsamen Jahrzehnte des (auslaufenden) Hundertjährigen Krieges und der Rosenkriege zwischen den Häusern York und Lancaster, in denen der alte britische Hochadel verblutete.
Es handelt sich hier um die drei Teile von Heinrich VI., entstanden um 1592. Im gleichen Zeitraum entstand auch Richard III. Quelle hier wie dort wie für alle anderen Königsdramen war die Chronik des Raphael Holinshed von 1577 (Chronicle of England, Scotland und Ireland), die Shakespeare intensiv benutzt hat und die insgesamt, soweit es die Fakten betrifft, mit der geschehenen Geschichte übereinstimmt. Meine alte Überzeugung, „Richard III.“ sei das grandioseste aller Königsdramen Shakespeares, musste ich aufgeben. Ich glaube jetzt, „Richard II.“ verdient dieses Urteil. Es ist ein atemberaubendes Stück. Es transportiert alle Ruchlosigkeiten, die auch das Jugendwerk hat, ohne dessen vorwitzige Zynismen zu teilen, und es verzichtet auf dessen abergläubige Mätzchen; es ist dafür von großer bitterer Wahrheit. Die Gefängnisklagen Richards II. werden nur noch von den Lamentationen König Lears eingeholt.

Heinrich V. ist sicher das ästhetisch makelloseste Stück des Zyklus, aber wie alle Makellosigkeit verströmt es ein zartes Parfum von erhabener Langeweile. Ich ziehe ihm den sechsten „Heinrich“ vor. Hier ist zwar vieles roh und dramatisch unbeholfen, aber immer wieder auch spürt man die Pranke des Genies, und Gloster agiert hier mindestens schon so aufregend wie in dem anschließenden, ihm gewidmeten Stück.

Die Welt dieser Dramen ist eine reine Männerwelt, was sie zumindest in der geschehenen Historie nicht war. Die Renaissance sprengte mit dem mittelalterlichen Subordinationsprinzip viele den Frauen angelegte Fesseln; so bildete sich eine ganze Riege dominanter Frauengestalten, auch im Umkreis des Hundertjährigen Krieges, auch im Hause Plantagenet. Bei Shakespeare sind sie entweder Klageweiber oder dumme geile Luder, und Jeanne d’Arc, wie man weiß, wird zur Hexe, vermutlich nicht nur aus patriotischen Gründen.

Schließlich – aber das sind schon andere Themen und andere Stücke – wird das realistische Genie Shakespeare von der Wahrheit des Lebens eingeholt: Er findet und erfindet Figuren wie Porzia, Desdemona und vor allem Lady Macbeth, denen die Männer zu Marionetten werden an allgewaltigen Händen.


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