Mein Arm
Tim CrouchMein Arm
(My Arm)
Monolog
Deutsch von Bernd Samland
1 H, 1 Dek
Eine Bühne.
Ein Stuhl. Ein Tisch. Eine Fernsehkamera auf dem Tisch. Beliebige Alltagsgegenstände, keiner größer als ein Schuh, im Idealfall aus dem Publikum zur Verfügung gestellt. Ein Fernsehapparat. Eine große Leinwand. Eine Spielzeugpuppe.
Ein Mann.
Erzählt. Er zählt auf. Das ist die Mutter, das ist der Vater, das ist der ältere Bruder, das ist der Hund, das ist das Haus, das ist das Auto – und dabei hält er die beliebigen Gegenstände in die Kamera, die alles auf den Bildschirm überträgt. Er erzählt seine Lebensgeschichte. Völlig unaufgeregt eine fast alltägliche Geschichte. Vom Leben auf dem Lande, vom Aufwachsen in der Provinz. Nur wird seine Lebensgeschichte zu einer Art Kunstgeschichte.
Wie das? Was hat er getan, was gemacht, was geleistet? Einmal im Leben, im Alter von zehn Jahren, hat er willkürlich, unwillkürlich, einer plötzlichen Eingebung folgend, den Arm gehoben, hoch in die Höhe gestreckt und ihn dann nie wieder fallen gelassen. Zu Hause als abartig angefeindet, von Psychiatern als hoffnungsloser Fall abgeschrieben, folgt er seinem älteren Bruder Anton, der sich zum Künstler berufen fühlt, und seinem Schulfreund Simon, der sich zum Kunstmanager mausert, in die Metropole und gerät mit seinem abfaulenden Arm in den Kunstbetrieb. Simon macht ihn zum Mittelpunkt einer Konzept-Kunst-Ausstellung mit dem Titel Manifest Man(n)-u-factum, eine berühmte Malerin entdeckt ihn als Modell. Es geht alles seinen kapitalistischen Gang. Am Ende steht in New York ein Vertrag mit dem größten
Kunsthändler über die künstlerische Verwertung des Lebenden, die Vermarktung der Leiche. Body-Art in höchster Vollendung; der Urahn solcher Darstellung – Kafkas „Hungerkünstler“ – lässt ebenso grüßen wie David Blaine in seinem Glaskäfig über der Themse. Ein Lebenswerk als Performance. Kunst als Chance zur Freiheit und Selbstbefreiung, Kunst als Falle, und das Publikum wird Teil des Verwertungszusammenhangs. Die Zuschauer sind Komplizen.
„Kunst ist alles, was einem als Kunst abgenommen wird“, lautet Simons Credo. Und Crouch wirft in seinem bösen, so komischen wie beunruhigenden Text natürlich die Frage auf: Was ist Kunst und was ist Mache? Gibt es einen an sich intentionslosen Gehalt, eine gehaltlose Intention? Verleihen erst Sekundäraktivitäten wie Kritik und Marktschreierei einem Objekt, einem dokumentierten Akt Sinn und Bedeutung? Mindestens seit Marcel Duchamp steht jedes Pissbecken unter Kunstverdacht, wenn es nur im „richtigen“ Kontext präsentiert wird. Umso dringlicher stellt sich die Frage: Macht erst der Rahmen das Bild? Ist der ästhetische Mehrwert eine gesellschaftliche Konstruktion der Konsumenten und Verwerter? Ebenso zufällig wie bestimmt entfaltet Crouchs Text eine Reflexion über Leben und Kunst, Leben als Kunst. Ein Mann ohne Eigenschaften wird zur unendlichen Projektionsfläche, und am Ende steht der Mensch nicht mehr als Subjekt da, sondern als Objekt, als globalisiertes Kunstwerk. Von der Kunstobjektwerdung des Menschen, die ja auch eine Verdinglichung ist, handelt Mein Arm.
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