Der Menschenfeind

Molière
Der Menschenfeind
(Le misanthrope)
Komödie in 5 Akten
Deutsch von Rainer Kohlmayer
3 D, 8 H, 1 Dek
"Der Menschenfeind" gehört zu den Stücken, die über die Jahrhunderte hinweg zu uns sprechen können. Die Figuren sind unsere Zeitgenossen. Alceste, der sich in seinem Männerstolz die Geliebte nur als Abhängige vorstellen kann; derselbe scharfsinnige und unerbittliche Gesellschaftskritiker Alceste, der dem frivolen Spiel Célimènes gegenüber so hilflos ist wie die Fliege im Honigglas; die junge Witwe Célimène, die als weiblicher Don Juan leben möchte, aber gnadenlos auf ihre konventionelle Rolle zurückgestutzt wird; Philinte, der die resignierte Philosophie der Anpassung und Kompensation vertritt, auch wenn die Welt ringsum von Gaunern beherrscht wird; Éliante, die den Traum von der großen Liebe kennt (ihr Monolog im 2. Akt ist die einzige genuin poetische Stelle des Stückes), aber lieber der Vernunft vertraut; Arsinoé, die das Spiel Célimènes durchschaut und dieser die Spielregeln der Männerwelt vor Augen hält usw. Auch die rein komischen Nebenfiguren Acaste und Clitandre sind von Molière mit individuellem Sprachprofil versehen (Acaste großmäulig, Clitandre listig-verschlagen); sogar der begriffsstutzige Diener Alcestes, Dubois, ist mit seiner abgehackten Sprache und militärischen Metaphorik sprachlich genau konturiert.
Molières "Menschenfeind" ist ein Wunder an psychologischer Klarsicht, an realistischer Gesellschaftsanalyse, an komischen und tragikomischen Szenen, an glanzvollen Gesprächen und existentiellen Wortgefechten. Bis heute ist diese staunenswerte Selbstzerfleischungs-Wunde unseres großen Zeitgenossen Molière nicht vernarbt.

Ein Prinzip meiner Übersetzung war die Suche nach dem idealen Kompromiss zwischen größtmöglicher Originalnähe und lebendiger Gegenwartssprache. Im Falle von Molières "Menschenfeind" bedeutete dies, dass ich eine zeilengenaue Übersetzung aller 1808 Verse des Originals machen wollte (jeder Regisseur wird dann seine eigene Strichversion herstellen), und dass die Form des Originals mit seinen gereimten Alexandrinern (12 bis 13 Silben pro Zeile) und seiner unterschiedlichen Figurensprache unbedingt beibehalten werden musste.

Ein Beispiel: Célimènes flinker Spott über die scheinheilige Arsinoé klingt bei Molière so:

"Oui, oui, franche grimace.
Dans l'âme elle est du monde; et ses soins tentent tout
Pour accrocher quelqu'un, sans en venir à bout.
Elle ne saurait voir qu'avec un oeil d'envie
Les amants déclarés dont une autre est suivie"


In gereimten Alexandrinern habe ich das folgendermaßen wiedergegeben:

"Ja, ja, nur falscher Schein.
Ihr Herz gehört der Welt; sie fischt nach einem Mann
mit tausend faulen Tricks, doch biss noch keiner an.
Und sie wird grün vor Neid, wenn sie mitansehn muss,
dass eine andre Freunde hat im Überfluss."


Natürlich ist die Herstellung einer zeilengenauen, gereimten Alexandriner-Fassung in lebendiger, dramatischer Gegenwartssprache eine Wahnsinnsarbeit, die nur Fanatiker auf sich nehmen. Aber die Mühe lohnt sich. Es grenzt immer wieder an ein Wunder, wenn man nach konzentriertester Suche und intensivstem Durchspielen aller Möglichkeiten schließlich eine Lösung findet, die Molières Stück von 1666 in schöner, unverkrampfter Gegenwartssprache wiedererweckt.
Dies ist übrigens einer der großen Vorteile des Übersetzens, der leider nur selten erwähnt wird. Eine gute Übersetzung ist eine Wiedergeburt.


RAINER KOHLMAYER, Herausgeber der Zeitschrift >Die Schnake<, Autor und Übersetzer von Theaterstücken, habilitierte sich 1995 mit einer Arbeit über die Rezeption von Oscar Wildes Komödien im deutschsprachigen Theater. Er gründete 1980 die Uni-Bühne Germersheim, rief 1998 das Forum LiteraturÜbersetzen GErmersheim ("FLÜGE") ins Leben und leitet die Fachgruppe Literatur- und Medienübersetzungen an der Universität Mainz. Rainer Kohlmayer hat zahlreiche satirische und kabarettistische Texte und Lieder geschrieben.

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