Hemmungslos
Craig LucasHemmungslos
(Reckless)
31 Szenen
Deutsch von Bernd Samland
4 D, 3 H, Verw - Dek
„Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt“, schrieb Gertrude Stein lakonisch, wischte alle Psychologismen vom Tisch und siedelte die Frage nach dem Ich wieder da an, wo sie hingehört: ins alltägliche Leben.
Kein kleiner Hund kennt Rachel, Mutter von zwei kleinen Söhnen und Hauptfigur des Stückes, die sich immer wünschte, in Alaska zu leben, weil es dort immer schneit, also immer Weihnachten ist. Wieder ein Heiliger Abend, und wieder hat ihr Mann Tom ihr keinen kleinen Hund geschenkt. Dafür verrät er ihr, daß gleich ein gedungener Killer ins Haus einsteigen wird, um sie zu ermorden. Es tut ihm auch schon leid, und er hilft ihr durchs Fenster übers Garagendach zur Flucht hinaus in den Schnee. Die Vertreibung aus dem Paradies, die Flucht aus dem Puppenheim führt ins total verrückte Leben. Mitten im kalten Winter steht sie in Hausschuhen in einer Telefonzelle und ruft ihre beste Freundin an, ob die nicht...
Da fährt auch schon ein Mann vor und fragt sie nach der nächsten Tankstelle. Er heiße Lloyd, sagt er, und er lädt sie ein, Weihnachten bei ihm und seiner Frau Pooty zu verbringen. Rachel steigt ein, stellt sich mit anderem Namen vor, wirft ihren Ehering aus dem Wagenfenster und begibt sich nun auf eine Reise durch die USA, wo jeder Ort Springfield heißt und jeder Mensch eine Geschichte zu vertuschen hat. Nichts ist, wie es scheint. Lloyd heißt nicht Lloyd, und seine gelähmte Frau Pooty ist nicht taubstumm, wie sie vorgibt.
Lloyd verschafft Rachel einen Job bei der international operierenden Wohltätigkeitsorganisation, für die er arbeitet, wo sie schon bald ihrer Kollegin Trish auf die Schliche kommt. In einer TV-Spielshow „Ihre Mutter oder Ihre Frau?“ gewinnt das Trio eine Menge Geld. Wieder mal Heiligabend, und Tom, der seine ausgerissene Frau im Fernsehen erkannt hat, taucht auf mit einer Flasche Champagner, die er vor der Tür fand. Natürlich ist der Champagner vergiftet, und Tom und Pooty sterben daran. Rachel und Lloyd fliehen, aus Angst, für die Mörder gehalten zu werden, ins nächste Springfield. Im Fernsehen hören sie, daß Trish die Schuldige ist: der Anschlag galt Lloyd und Rachel. Inzwischen lebt Lloyd, der früher nie getrunken hat, nur noch von Champagner und stirbt daran.
Absurd bis zur Realität sind die Erlebnisse Rachels. Sie gerät an sechs verschiedene Psychologinnen, Psychiaterinnen, Therapeutinnen, die ihre Erfahrungen für Träume halten. Doch die Alpträume sind Wirklichkeit. Der Mann in der Skimaske, von dem sie sich verfolgt fühlt, erschießt in einer Fernseh-Talkshow die Gesprächsleiterin, irrtümlicherweise.
Am Ende des Stückes lebt Rachel in Alaska, ist selbst Psychologin geworden, die weiß, wie provisorisch das menschliche Ich ist; am Heiligen Abend empfängt sie als letzten Patienten ihren Sohn Tom jr. ... Sie erkennt ihn, er sie nicht. Ein ironisches Happy-End.
Der Märchenschluß eines Weihnachtsmärchens, mit allen grausamen und komischen Zutaten des Märchens, das das Leben schreibt. Kein kleiner Hund kennt Rachel. Aber sie ist jemand geworden, trotz aller Widrigkeiten. Denn ankommen kann, wie Rachel gelernt hat, nur, wer weggeht.
Die amerikanische Kritik hat in seltener Einmütigkeit, von Frank Rich in der New York Times bis zum Yale-Theaterprofessor Robert Brustein, das Stück von Craig Lucas gelobt: als witzigen, bitterbösen und politischen Kommentar zum US-amerikanischen Alltagsleben, als Kritik am amerikanischen Traum, wie ihn Werbeagenturen und Massenmedien verkaufen.
Zurück zur Übersicht
