Das Schicksal in mir
Larry KramerDas Schicksal in mir
(The Destiny of Me)
Stück in 3 Akten
Deutsch von Bernd Samland
2 D, 5 H, Verw - Dek
Mit seinem im Herbst 1992 erfolgreich in New York uraufgeführten Stück, das die Kritik auf Anhieb mit O’Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht verglich, schrieb Larry Kramer die Geschichte seines autobiographischen Helden Ned Weeks aus seinem großen internationalen Erfolg The Normal Heart weiter - in die Gegenwart, aber auch in die Vergangenheit. Gerade deswegen ist es weit mehr als eine bloße Fortsetzung von Neds Geschichte, eines schwulen Lebenslaufs. Wir befinden uns im Jahr 1992, und der Schriftsteller und Schwulen- und AIDS-Aktivist Ned Weeks, inzwischen HIV-infiziert, befindet sich zur Behandlung im Krankenhaus von Dr. Della Vida, während vor dem Krankenhaus Betroffenengruppen sowohl gegen die ihrer Meinung nach unzureichende staatliche Unterstützung der AIDS-Forschung wie auch gegen die umstrittenen Behandlungsmethoden Della Vidas demonstrieren. Todesangst und Kampfgeist haben Ned zu dem von ihm stets heftig kritisierten Della Vida getrieben; Kampfgeist und Todesangst sind auch die Triebkräfte seiner Gewissenserforschung, die von der Gegenwartsbewältigung über die Vergangenheitsbewältigung zur Selbstvergewisserung führt: Wie wir wurden, was wir sind - das ist Kramers Thema.
Mit einem dramaturgischen Kunstgriff gelingt Kramer spielerisch die nahezu nahtlose Verknüpfung von Einst und Jetzt, der Beweis für William Faulkners Diktum, daß die Vergangenheit nicht nur nicht vorbei, sondern nicht einmal vergangen ist. Dieser dramaturgische Kunstgriff ist das Auftreten von Neds jugendlichem Ich, Alexander, der als Dreizehn- bis 24jähriger die Vergangenheit der Familie Weeks szenisch heraufbeschwört. Damit weitet der Autor die im Grunde private Geschichte von Ned Weeks aus: ganz ohne Engel oder Teufel in Amerika entwirft er mit der Geschichte der Familie Weeks eine kleine sozialpsychologische Geschichte der USA, die mit den Erinnerungen von Neds Eltern Richard und Rena bis in die vierziger, dreißiger und zwanziger Jahre zurückreicht, in die Zeiten der wirtschaftlichen Depression und zur ersten Generation jüdischer Einwanderer. Die Auftritte von Neds älterem Bruder, der ironischerweise Benjamin heißt und Neds großes Vorbild ist, akzentuieren die Szenen einer Familie in ständiger wirtschaftlicher Not, in der vor allem Eines verpönt, wenn nicht gar tabu war: Gefühlen der gegenseitigen Zuneigung oder Liebe Ausdruck zu geben. An dieser Last des Liebesverbots, das einhergeht mit dem Verlangen nach Liebe, kranken alle Gestalten in Kramers Drama. Und Ned, der schließlich nach langem Kampf gegen dieses Verbot verstößt, um endlich zu leben, holt sich dabei den sicheren Tod.
Ein Heilmittel fürs Leben ist weder in Dr. Della Vidas Krankenhaus noch in Larry Kramers aufwühlendem Theaterstück in Sicht. Trost allein und damit Sinngebung des Sinnlosen verheißt am ehesten noch das Gedicht „Aus der ewig schaukelnden Wiege“ von Walt Whitman; eine Strophe dieses klassischen amerikanischen Gedichts stellt Kramer seinem Stück als Motto voran. Diese Strophe sei hier in der Übersetzung von Hans Reisiger zitiert:
O du einsamer Sänger, der du sangst für dich, Vorbote
für mich,
O du mein einsam lauschendes Ich, nimmermehr werd ich
aufhören, eure Lieder weiterzusingen,
Nimmermehr eurem Banne entgehn, nimmermehr wird der
Widerhall,
Nimmer werden die Rufe ungestillter Liebe in mir
verhallen,
Nimmer werde ich wieder das friedliche Kind sein, das ich
war, eh dort in der Nacht,
Am Meere, unter dem gelben, tiefen Mond
Der Bote in mir das Feuer erweckte, die süße Hölle im
Innern,
Das unbekannte Verlangen, das Schicksal in mir.
Wer zum Teufel ist eigentlich dieser Larry Kramer? Warum regt er sich immer so auf? Und was hat er gemacht die ganze Zeit?
Glaubt man dem Stück, hat er vom Leben nichts weiter zu erwarten als einen Nachruf in der New York Times. Der sicher zwiespältig ausfallen wird. Weil sein Nachlaß zu Lebzeiten Wut, Wort und Tat umfaßt. Eine politisch-literarische Leistung in vielleicht schwer zu schluckender Mischung. Ein bunter Hund. Wie kann man ihn beschreiben? Sicher ist: Larry Kramer wurde in Bridgeport, Connecticut, geboren, wuchs auf in Washington, DC, beendete 1957 ein Studium an der Yale University und landete in der Filmindustrie. Von 1961 bis 1970 lebte und arbeitete er in London, wo er zunächst die britische Tochter der Columbia Pictures leitete, dann als Produzent zu United Artists ging. Sein größter Erfolg als Drehbuchautor und Produzent war 1969 der Film Liebende Frauen nach dem gleichnamigen Roman von D.H. Lawrence, Regie Ken Russell, der Kramer eine Oscar-Nominierung für das beste Drehbuch eintrug und Glenda Jackson einen Oscar als beste Hauptdarstellerin bescherte. Nach Querelen bei der Neuverfilmung von James Hiltons Der verlorene Horizont zog sich Kramer vom Film zurück und ging als freier Schriftsteller nach New York City. 1978 sorgte sein bisher einziger Roman Faggots für Furore und spaltete die Gay Community - vermutlich, weil er die bis heute witzigste, bissigste und geilste (oder abstoßendste, je nach Standpunkt) Schilderung der Schwulenszene der siebziger Jahre ist. Die angekündigte deutsche Übersetzung ist nie erschienen; das Buch war bei seinem Erscheinen ebensowenig „politisch korrekt“ wie heute. Heute vielleicht aus ganz anderen Gründen. Als sich unerklärliche Krankheits- und Todesfälle unter Schwulen häuften, gründete Larry Kramer 1981 mit Freunden die Gay Men's Health Crisis (GMHC), die erste Selbsthilfegruppe für HIV-Infizierte: lange bevor die rätselhafte Krankheit den Namen AIDS bekam - und ihre Übertragung durch das Virus wissenschaftlich geklärt wurde. Der Stoff, aus dem Alpträume sind, ging ein in sein Stück The Normal Heart, das nach seiner Uraufführung 1985 in New York weltweit mehr als 600 Inszenierungen erlebte, ganze vier seit 1987 im deutschsprachigen Raum. 1987 gründete er ACT UP, eine AIDS- und schwulenpolitische Pressure Group, die wie GMHC zum Vorbild für ähnliche Gruppen auf der ganzen Welt wurde. Die sexuelle Scheinheiligkeit der Reagan-Ära nahm er satirisch aufs Korn in seiner Farce Just Say No (1987). Reports From the Holocaust: The Making of an AIDS-Activist versammelt seine politisch-autobiographischen Essays (Penguin). Barbra Streisand hat die Filmrechte für The Normal Heart und Das Schicksal in mir erworben. Larry Kramer, selbst HIV-infiziert, lebt noch immer in New York und arbeitet an einem Roman, der den Titel The American People tragen soll. Long may he live. Wir haben in Deutschland keinen wie ihn. Und brauchten ihn doch, bei all den schweigenden Schwulen in der Kulturindustrie, so dringend.
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