Das letzte Bild

Thomas Huber
Das letzte Bild
11 Szenen
3 D, 2 H, 1 K, Verw- Dek
Helen und Nick begegnen sich nachts auf einem verlassenen Landflughafen östlich von Berlin. Sie haben sich unabhängig voneinander um ein Ndeup beworben. Ndeup ist ein jahrhundertealtes senegalesisches Ritual zur Austreibung von psychischen Krankheiten. Der Patient wird mit einem stinkenden Ziegenbock zusammengebunden und muss unter einer schweren Felldecke bei glühender Hitze mit dem Tier auf dessen Tod warten. Dann wird er mit Blut eingeschmiert und muss stundenlang tanzen. Zwischendurch werden Snacks und Coca Cola gereicht. Die Wirkung wird von einigen Europäern als eine Art Elektroschock beschrieben, der zumindest für einige Zeit Linderung bringt. Ein Aufheller für die Schwermut.

Helen ist Anfang Vierzig. Sie lebt in Kreuzberg und wird von ihrem Arzt, genannt Doc Schneider, seit vielen Jahren mit Medikamenten in einem stabilen Gleichgewicht gehalten. Helen ist manisch-depressiv. Sie will nicht mehr, dass Woche für Woche ihr Vergaser neu eingestellt wird. Sie will das Leben in Farbe und Cinemascope erleben. Das Ndeup ist ihr letzter Versuch. Gelingt er nicht, will sie sich in den japanischen Vulkan Mihara stürzen oder sonstwie zu Tode kommen. Sie hat sich bis jetzt nur noch nicht das letzte Bild ausgesucht.

Nick ist Mitte Zwanzig. Er trägt Koteletten, die wie Pfeile auf seinen Mund zeigen, deshalb denkt man, er wird gleich etwas sagen. Aber Nick hält sich bedeckt.

Es ist tiefe Nacht. Die Lichter des Flughafens sind längst erloschen, irgendwo hört man Kühe. Der Bus der Senegalesen, der die beiden abholen sollte, kommt nicht. In Afrika fahren die Busse erst, wenn sie voll sind, sagt Helen gut gelaunt. Die beiden ziehen schließlich ihre Rollkoffer durch die Nacht und machen sich zu Fuß auf den Weg nach Guckow. Dort angekommen, stellen sie fest, das die Adresse ein Landpuff ist, in dem Malve arbeitet, die das Ritual später auf einem alten Fußballplatz im Wald durchführen wird. In der Nacht davor mach Helen eine Entdeckung...

Es ist eine Komödie. Ein Road Movie. Wie in jeder Komödie geht es um's nackte Leben. Es geht um ein Versprechen. Es geht um Horst, den Taxifahrer, dessen Frau gestorben ist und der es sich zur Aufgabe gemacht hat, jedes Foto von ihr exakt auswendig zu lernen, bis ins kleinste Detail, bis hin zum Schatten des Fingers des Japaners, der für die beiden ein Foto gemacht hat, und den man rechts oben im Bild noch spürt. Es geht um Wahrnehmung, die als Krankheit etikettiert und zurechtgestutzt wird. Und es geht um Malve.


HELEN   Bald werd' ich meinen Doc verlassen. Hat schon die gleiche Frisur wie ich. Sitzt immer hinter mir und atmet. Manchmal habe ich Angst, dass er einfach tot ist. Dann höre ich auf zu reden und horche. Aber ich darf mich nicht umdrehen. Ist verboten. Alles, was wir in der Praxis tun, hat eine zweite Bedeutung. Wie ich gehe, wie ich stehe, wie ich gucke, wie ich lächle, wie ich liege, wie ich schweige. Man müsste an so viele Dinge gleichzeitig denken. Er gibt mir die Hand, und ich nehme sie wie einen einarmigen Banditen. Er sieht mich genau dabei an. Ich darf nicht zu schnell und nicht zu langsam, sonst bricht er ab, so, g u t e n T a g, H e r r S c h n e i d e r, auf und ab, auf und ab, so drei, vier mal, nicht mehr, auf keinen Fall, mein Doc ist hohl, er bricht und bröselt leicht. Wenn ich es richtig mache, setzt er sich hinter meinen Kopf und schweigt. Ich sehe zur Decke hoch. Auf dem Putz laufen Bilder. Wenn man stirbt, bleibt der Film einfach stehen. Nichts weiter. Normalerweise kann man sich das letzte Bild nicht aussuchen. Ich hätte mein Leben gerne auf Kassette. Das Ndeup ist mein letzter Versuch.

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