Sechzehn Verletzte
Eliam KraiemSechzehn Verletzte
(Sixteen Wounded)
Stück in 2 Akten
Deutsch von Bernd Samland
2 D, 3 H, 1 Dek
Backen ist hauptsächlich eine Sache der Geduld. Unter diesem Motto betreibt Hans, ein älterer Junggeselle, eine kleine Bäckerei in Amsterdam; dabei hilft ihm Nora, eine junge Frau, die sich langsam von ihrem Traum, Tänzerin zu werden, verabschiedet. Einmal die Woche bekommt er Besuch von Sonja, einer russischen, nicht mehr ganz so jungen, Prostituierten. Sein Leben verläuft in ruhigen Bahnen, bis seine vermeintlich heile Welt in einer Winternacht gestört wird, als ein junger Mann von Fußball-Hooligans durch seine Schaufenster-scheibe geschmissen wird. Er kümmert sich um den Verletzten, der auf keinen Fall ins Krankenhaus gebracht werden will, weil er sich illegal in den Niederlanden aufhält. Mahmoud – nur widerstrebend gibt er seinen Namen preis – stammt aus Palästina, wo er aus Geldnot sein Medizinstudium abbrechen mußte. Behauptet er jedenfalls. Und nach Amsterdam ist er gekommen, weil Ajax sein Lieblingsfußballverein ist. Hans teilt seine Liebe zum Fußball, wie auch zum Backgammon, das arabisch Shesh-besh heißt. Und als Mahmoud beim Backgammon nicht das Geld erspielt, mit dem er Hans die Scheibe bezahlen wollte, macht dieser ihm das Angebot, in seiner Bäckerei zu arbeiten, erinnert er sich doch daran, wie er selbst einmal von Nills, dem früheren Bäcker, aufgenommen worden war.
Mahmoud nimmt das Angebot an. Doch als er am Ende des ersten Arbeitstages an der Innenseite der Tür – nicht an der Außenseite, wie es jüdischer Brauch vorschreibt – die Mesusa sieht, wirft er Hans den ersten Tageslohn wutentbrannt vor die Füße, weil er es nicht ertragen kann, daß ihm ein Jude hilft. Es paßt nicht in sein Weltbild. (Und daß die Ajax-Fußballer von ihren Verächtern als Juden geschmäht werden, hat er auch nicht gewußt.) Allerdings kehrt er reumütig zurück, weil er wohl keine andere Wahl hat und weil Hans erklärt, er sei Bäcker und nicht Jude.
Und so nimmt die Geschichte ihren zivilisierten westeuropäischen Lauf. Mahmoud lernt Backen. Nora und Mahmoud verlieben sich ineinander. Selbst als klar wird, warum Mahmoud untergetaucht ist – er hat ein Attentat mit tödlichem Ausgang begangen – kann das die Eintracht nicht nachhaltig stören. Und als Nora schwanger ist, erklärt sich Hans auf Mahmouds Bitte sogar bereit, dem Kind nach seiner Geburt das Azan zu sprechen, sozusagen Pate zu werden. Auf privater Ebene lassen politische Konflikte sich lösen, so scheint es.
Doch dann taucht Ashraf auf, der über Mahmouds Leben vollständig im Bilde ist. Ashraf erinnert seinen Bruder Mahmoud erpresserisch an seine Pflichten als Palästinenser. Mahmoud muß sich entscheiden: Privates Glück oder Dienst an der vermeintlich guten Sache?
Eines Nachts wird Mahmoud von Hans mit Sprengstoff und Zünder in der Bäckerei überrascht. Der Bäcker verspricht ihm, für sein noch ungeborenes Kind zu sorgen, falls... Und als am nächsten Morgen Amsterdam von einer Explosion in einer Synagoge erschüttert wird – zeitgleich, wie die Fernsehnachrichten melden, mit Explosionen in anderen europäischen Städten – weiß Hans, was die Stunde geschlagen hat. Die Geschichte hat ihn, der das Konzentrationslager überlebte und nur Bäcker sein wollte, eingeholt.
Kraiems verstörendes Stück wirft die Frage auf, ob seine Figuren Subjekte oder Objekte der Geschichte sind. Hätte sich Mahmoud befreien können aus den angeblichen Zwängen der Vergangenheit, seiner Vergangenheit, der politischen Vergangenheit? Fest steht am Ende nur, was der Nachrichtensprecher verkündet: "Überlebende berichten, sie hätten gesehen, wie kurz vor der Explosion ein Mann mit schwarzem Rucksack die Synagoge betreten habe. Der bisher noch nicht identifzierte mutmaßliche Täter riß mindestens zehn Menschen mit sich in den Tod, sechzehn wurden verletzt.”
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