Der Rückzug aus Moskau

William Nicholson
Der Rückzug aus Moskau
(The Retreat from Moscow)
Stück in 2 Akten
Deutsch von Dorothee Asendorf
1 D, 2 H, 1 Dek
Warum ist Edward, ein Geschichtslehrer Ende Fünfzig, so fasziniert von den erhalten gebliebenen Augenzeugenberichten des Rückzugs der Grande Armée Napoléons aus Moskau im Eis und Schnee des russischen Winters? Und warum reagiert Alice, seine langjährige Ehefrau, so allergisch auf diese ihrer Meinung nach abartige Passion? Toleriert Edward denn nicht auch ihre Liebe zur Lyrik? Sie schüttelt Gedichte nur so aus dem Ärmel und hält damit durchaus nicht hinter dem Berg. Ihre Kenntnisse sind beeindruckend, doch wo bleibt Alice, die liebende Gattin und Hausfrau, wenn sie wie besessen an einer Gedichtanthologie arbeitet und als gute Katholikin keine Messe versäumt? Trotz allem: Eine harmonische Ehe von Bildungsbürgern, tolerant und offen, so sollte man meinen, doch eine spitze Bemerkung hier, ein bissiger Seitenhieb da – allmählich bröckelt die ach so heile Fassade, bis Edward ziemlich unvermittelt gesteht, dass er eine andere Frau kennen und lieben gelernt und bereits die Koffer gepackt hat. Ein Unfall, wie er behauptet, doch für Alice bricht eine Welt zusammen.


Woran könnte es Edward in all den Jahren gefehlt haben? Führten sie nicht die "fröhliche" Ehe, wie er sie wünschte? Eine Hochzeitsreise nach Indien, Gedichte inklusive, ein wohlgeratener Sohn, was will er mehr? Na gut, ein paar kleine Zugeständnisse könnte sie ja machen, und man lebt weiter zusammen "bis dass der Tod euch scheidet." Aber Edward zieht aus. Alice, die verlassene Frau, kann sich nicht mit ihrer Situation abfinden, sie leidet furchtbar und ist stark suizidgefährdet, bis sie sich für die Aids-Beratung engagiert – Gedichte inklusive, doch nun für ein willigeres Publikum. 


Jamie, der Sohn, wird mit in den Strudel gerissen, soll helfen und schafft es nicht, soll Partei ergreifen, wo er nicht Partei ergreifen will und kann. Die allmähliche Demontage dieser scheinbar so glücklichen Ehe stürzt den Zuschauer in genauso ein Wechselbad divergierender Sympathien wie Jamie, der am Ende gestehen muss: Ich liebe euch beide und hätte euch so gern geholfen, aber es war mir nicht möglich, denn ich bin euer Kind.


Nicholson verknüpft das sich entfaltende Ehedrama mit der existenziellen Frage des historischen Rückzugs aus Moskau: Ist es dem Stärkeren gestattet, den Schwächeren im Stich zu lassen, wenn Zusammenbleiben den sicheren physischen-oder psychischen-Tod bedeutet?




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