Die Vernissage
Donald MarguliesDie Vernissage
(Sight Unseen)
Stück in 2 Akten
Deutsch von Bernd Samland
2 D, 2 H, Verw - Dek
"Jugendbildnis des Künstlers" – so könnte man den Titel der deutschen Erstübersetzung des James-Joyce-Romans "A Portrait of the Artist as a Young Man" doppelsinnig variierend reaktivieren, denn Donald Margulies stellt nicht nur den Werdegang, Bildungsgang des Malers Jonathan Waxman ins Zentrum seines Stückes, sondern auch das Schicksal des Bildes, das Jonathan als junger Mann von einem jungen Mädchen gemalt hat.
Jonathan, ein Mann mittleren Alters, Maler und Jude aus New York, kommt nach London zur ersten umfassenden Retrospektive seines Werks in Europa. Von London aus macht er per Auto einen Abstecher aufs Land, nach Norfolk, wo seine New Yorker Jugendliebe Patricia inzwischen heimisch geworden ist – beruflich als Archäologin, privat in der Ehe mit Nick, einem englischen Kollegen. Jonathan und Patricia, von ihm immer noch Patty genannt, haben sich seit ihrer Trennung nicht mehr gesehen. Nick und Patricia haben gemeinsam gerade erst eine römische Latrine ausgegraben, eine kleine archäologische Sensation. Aber was ist das schon gegen den weltberühmten, so provokanten und damit umstrittenen Maler Waxman. Weltläufiger Glamour trifft auf kalte englische Küche in einem unzentralgeheizten Cottage.
Und zwischen angeheiztem Kamin und Heizdecke auf der Matratze des Gastes, zwischen dem Interview des Künstlers mit der deutschen Journalistin Grete in der Londoner Galerie und dem unterkühlten Zusammenstoß mit Nick im Cottage entfaltet sich ein atemberaubend lebendiger Diskurs über die Rolle von Kunst und Künstler im heutigen Leben. Bei dem nicht nur die Moderne auf den Prüfstand gestellt wird. Oder spielen Kunst und Künstler nur eine Rolle im Betrieb? Wenn Werke ohne Ansehn des Motivs von einer Warteliste für ungemalte Bilder eines Künstlers gekauft werden? Und provokante Künstler, die sich in der Rolle des Außenseiters gefallen, längst im Mainstream gelandet sind? Was zum Teufel ist Kunst?
Und was hat Jonathan nach so langer Zeit eigentlich zu Patricia gezogen, getrieben? Das Verlangen, die damals nie geführte Aussprache nachzuholen? Die Suche nach der verlorenen Zeit? Oder doch nur die Ahnung, daß Patricia noch jenes Bild besitzt, das er einst vor Jahren von ihr gemalt hat. Und dieses Bild, ein grundlegendes Werk seines Œuvres, wie ihm zu seiner eigenen Überraschung auffällt, hängt natürlich über Pattys Kamin. Jonathan hätte es gern für seine Retrospektive; Patricia will es nicht herausrücken. Woher nehmen, wenn nicht stehlen. Man wird sich einig. Denn der Zuschauer weiß längst: Das Bild ist Teil der Retrospektive. Das nicht chronologisch verlaufende Stück gewinnt seine Spannung aus den zeitlichen Verwerfungen der Szenen.
Und führt dennoch zielgerichtet zurück zur Schlüsselszene, zur Urszene des ganzen Geschehens, zum Ausgangspunkt des Dramas. Vor siebzehn Jahren, als Patricia Jonathans Aktmodell war. Die unbeschwerte junge Schickse sitzt dem verklemmten jungen Juden Jonathan Modell. Er malt sie, es entsteht ein Jugendmeisterwerk, und Patricia macht den ersten Schritt, erotisch, sexuell. Man sollte doch meinen. Aber nein. Wie wir dem Stück entnehmen, ist alles anders gekommen. Und man könnte meinen, Jonathans späteres Werk, vor allem sein berühmtes Gemälde "Walpurgisnacht" – ein Schwarzer fickt auf einem jüdischen Friedhof eine Weiße – sei eine immerwährende Rache des sich als Außenseiter gerierenden Mainstream-Malers, was übrigens auch Grete andeutet. Ob der Vorhang zugeht, weiß ich nicht; das bleibt der Inszenierung überlassen. Doch viele Fragen bleiben offen. Was nicht schlecht ist für ein Stück.
Sicher ist, Donald Margulies zeigt in "Die Vernissage" kaleidoskopisch, prismatisch, facettenreich ein Künstlerleben in heutiger Zeit, zwischen Selbstverwirklichung und PR-Hype. Und damit ein bißchen mehr als bloß Waxmans Erzählungen.
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