Tartuffe

Molière
Tartuffe
(Tartuffe ou L'imposteur)
Komödie in 5 Akten
Deutsch von Rainer Kohlmayer
5 D, 7 H, 1 Dek
Molières Stück über den religiös-fundamentalistischen Heuchler ist die seit Jahrhunderten aktuelle Satire auf den Wolf im Schafspelz, der die Religion als Vorwand benutzt, um seine erotischen und habgierigen Ziele zu verbergen.

Tartuffe gewinnt in der Maske der Frömmigkeit das uneingeschränkte Vertrauen von Orgon und dessen bigotter Mutter, er spekuliert auf die Heirat mit Orgons Tochter Mariane und geht gleichzeitig Orgons junger Frau Elmire skrupellos an die Wäsche. Und als Elmire ihrem unter dem Tisch versteckten Ehemann die Verlogenheit Tartuffes unwiderleglich vor Augen und Ohren führt, ist es zu spät: Tartuffe dreht den Spieß um und beweist, dass er selbst der Herr im Hause ist. Erst in allerletzter Minute kommt es zu der bekannten Deus-ex-machina-Wendung, wodurch der Heuchler unschädlich gemacht wird.

Tartuffe ist das meistgespielte und meistdiskutierte Molière-Stück überhaupt, es verbindet deftige Charakter- und Situationskomik mit schneidender Satire. Anfänglich verboten, weil es vor allem als Angriff auf die Macht der Kirche verstanden wurde, wird es seit langem so gespielt, dass es auf alle möglichen Heuchler passt. Und wer könnte behaupten, heute gäbe es keine erheuchelten Eheschließungen oder Erbschaften oder Karrieren mehr? Das Thema des Stückes ist jedenfalls zeitlos.

Die Neuübersetzung versucht, ohne Anbiederung und ohne inhaltliche Verbiegung, die Figuren des Stückes sprachlich zu unseren Zeitgenossen zu machen. Sie sprechen eine an Molières Rhetorik und Versen orientierte deutsche Gegenwartssprache. Dabei bestehen aber zwischen der Sprechweise der Figuren Molières erhebliche Unterschiede, die auch der Übersetzer beachten muss. Die süßliche Rhetorik Tartuffes, der Elmire in einer heuchlerischen Mischung aus religiösen Floskeln und erotischer Sinnlichkeit anschmachtet; Orgons machistisches Auftrumpfen, womit er seine Schwäche und Isolierung in der Familie übertönt; Elmires elegant-kühle Damenhaftigkeit; Madame Pernelles geradezu bäuerlich-grobe Verbohrtheit; Damis' unüberlegtes Draufgängertum; Marianes eingeschüchterte Indirektheit; Valères hilflose Neigung zur Gekränktheit im 2. Akt, sein atemloses Hilfsangebot im 5. Akt; Cléantes eloquent-intellektuelle Argumentationsbögen; Dorines sprachliche Beziehungskunst, der es auf so amüsante Weise gelingt, alle Register der Kommunikations-Diplomatie und einer emanzipierten Weiblichkeit auszureizen; Monsieur Loyals aalglatter Sadismus; der massive Ton des Polizeibeamten am Schluss.

Je genauer man als Übersetzer die polyphone Stimmenvielfalt Molières im gegenwärtigen Deutschen imitiert, desto deutlicher zeigt sich das Rätselhafte und Moderne des Stücks: "die Zersplitterung der Figurenwelt, das Nebeneinander ohne Miteinander". Einzig und allein die Zofe Dorine versucht, die Familie zusammenzuhalten. Aber zwischen Orgon und Elmire herrscht Kälte, zwischen den Generationen ebenfalls, und die rhetorischen Glanzleistungen von Cléante verraten nicht gerade emotionales Engagement. Der Auftritt des königlichen Polizeibeamten am Schluss macht zwar den Kriminellen unschädlich, stellt aber keine heile Welt her, sondern lässt die erwachsenen Hauptfiguren (Orgon, Elmire, Madame Pernelle, Cléante) in ihrem beziehungslosen existentiellen Vakuum zurück.

Die Polyphonie der Figuren ist aber zugleich die Quelle der Molièreschen Komik. Der rührend-komische Zank der Liebenden, die Auseinandersetzung zwischen Dorine und Orgon, das raffinierte Spiel zwischen Elmire und Tartuffe, die Auseinandersetzungen mit Madame Pernelle, das Gegeneinander zwischen Orgon und Cléante usw. – all das sind Szenen mit wundervollem Komikpotential, wobei man aber zwischen der "Anästhesie des Herzens" (Bergson) und lebhaftem Mitgefühl hin- und hergerissen werden kann.

Das sprachliche Nebeneinander der Figuren ist eines der kreativen Rätsel für den Regisseur; hier ist ein großer Spielraum für die dramaturgische Ausgestaltung und schauspielerische Verkörperung des bis heute nicht ausgereizten Beziehungsgeflechts.

Das zweite große (oder eher: größere) Rätsel des Stückes ist, wie man mit dem in letzter Minute erzwungenen Happy End umgehen soll. Je nach der Lösung, die der Regisseur wählt (historischer oder pseudohistorischer Realismus; Ironisierung; faschistischer Kontext usw. usf.), erscheinen alle Figuren und alle Beziehungen in einem anderen Licht.

Molières "Tartuffe" ist für unsere Theater eine der fruchtbarsten dramatischen Rätselaufgaben, weil die Geschichte vom Wolf im Schafspelz zu jeder Zeit spielen kann – und dabei sowohl zu amüsieren als auch zu erschrecken vermag.

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