Einmal hast du Flügel

Charles Lewinsky
Einmal hast du Flügel
Theaterstück
2 H, 1 Dek
Zwei alte Männer erinnern sich. So einfach und harmlos könnte man den Inhalt dieses Dialogs beschreiben. Aber Erinnerung ist mehr als ein verblasstes Bild, an dem man, wie durch ein Museum der eigenen Vergangenheit, vorbeischlendert. Vor allem, wenn es eine Erinnerung ist, die auch nach Jahrzehnten immer noch nicht verarbeitet ist, voller schrecklicher Geschehnisse, die man nicht wahrhaben will und doch nicht vergessen kann.

Zwei Brüder, Psychologe der eine, Inhaber eines Kleidergeschäfts der andere, beide längst im Ruhestand, treffen sich an einem Ort, wo sie als Kinder Traumatisches erlebt haben. Ihre Eltern hatten sie damals auf einem Bauernhof untergebracht, um sie vor einer nie exakt definierten Verfolgung zu bewahren, und man hat sie dort, hilfsbereit und ablehnend zugleich, tagelang in einem Brunnenschacht versteckt.

Ihr Gespräch kreist in immer neuen Wendungen und Ausflüchten, auf immer neuen Umwegen um dieses zentrale Ereignis. All die Jahre haben sie nie darüber gesprochen, sie wollen sich nicht daran erinnern, weil es zu schmerzhaft ist, und doch lässt es ihnen keine Ruhe. Unerbittlich drängt sich ihnen die quälende Erinnerung auf.

Die dramaturgische Spannung dieses abendfüllenden Einakters liegt in der Frage, die sich dem Betrachter immer drängender stellt: Was ist damals passiert, was war so schlimm, dass die beiden sich bis heute schuldig fühlen, obwohl sie doch selber Opfer waren?
 
Beim Versuch, sich diesem Punkt zu nähern und ihm doch immer wieder auszuweichen, schlüpfen die beiden wiederholt in die Rolle ihrer früheren Existenz. Zwei alte Männer erinnern sich. Zwei alte Schauspieler werden wieder zu Kindern.


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