Plessing oder Der magnetische Traum

Thomas Huber
Plessing oder Der magnetische Traum
3 Szenen und ein Epilog
1 D, 2 H, Verw - Dek
Im November 1777 reiste Goethe nach Wernigerode, um einen gewissen Viktor Leberecht Plessing, ebenfalls 27 Jahre alt, aufzusuchen, der ihm mehrere verzweifelte Bittbriefe geschrieben hatte. Hilferufe, die von Goethe nie beantwortet wurden. Goethe reiste inkognito, gab sich als Maler Weber aus, weitläufig bekannt mit jenem Goethe, dessen Werther unter Napoleons Kissen lag. Plessing, ein verarmter Pietistensohn, dem es an Lebensmut gebrach, ehrgeizig, hypochondrisch, von niemandem geliebt, misstrauisch, überheblich, an sich selbst verzweifelnd, talentlos und ohne Einsicht, beklagte sich bitter bei dem fremden Besucher über die Kälte des Olympiers. Auf dem Weg zum Ruhm hatte Goethe bereits viele Gefährten verloren. Vielversprechende und andere. Sie schmolzen unter der sengenden Kraft seines Talents. Was ihn selbst hoch zur Sonne schleuderte, stieß manch anderen ins Schattenreich der Psyche hinab. Goethes "Werther" infizierte eine ganze Generation mit dem Tod. Diese Schuld verließ ihn nie.

Plessing ist der andere, das Bild im blinden Spiegel. Beide stehen vor dem Abgrund der Neuzeit, die das Individuum zur Zählgröße einer vermessenen Welt schrumpfen wird.

Goethes Einsicht in Plessings unabwendbares Scheitern schuf eines seiner geheimnisvollsten und schönsten Gedichte. Plessing wäre in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, hätte dieser eine Tag mit Goethe ihm nicht eine Fußnote in der Weltgeschichte eingebracht. "Plessing oder der magnetische Traum" schildert diese Begegnung.

Die beiden machen sich auf zu einer Besteigung des Brocken. Die Natur soll Plessing zur Lehre dienen. Als ein Unwetter heraufzieht, übernachten sie unter einem Felsvorsprung. Mit dem Sezierblick des Zu-kurz-Gekommenen  entdeckt Plessing Goethes wahre Identität.

Er fordert von ihm die Anerkennung, die ihm zusteht. Als Goethe sie ihm verwehrt, beginnt Plessing zu halluzinieren. Sein zerrütteter Geist erschafft sich eine heimliche Gefährtin, Lili, die von nun an nicht mehr von seiner Seite weicht. Goethe beendet entnervt sein "Abenteuer" und macht sich aus dem Staub.

Jahre später treffen sich die beiden in Goethes Gartenhaus zu einem Bad im Mondenschein. Zwei erloschene Visionäre. Am Ende des Lebens ist Plessings Scheitern auch für Goethe selbst wahr geworden.


GOETHE   Dann nehmen Sie doch Ihre paar Talente in die Hand und laufen los, Plessing, Sie leiden am Mittelmaß, und derer sind viele, viele. Jedes Magenleiden wird da gleich ans Kreuz genagelt und in die Höh' gehoben: Seht her, mein Magen ist verstimmt, für euch hab ich mich übergeben. Die Welt ist voller Müßiggänger, nach denen man sich nicht mal umdrehen mag. Sie zappeln, als hätten sie Kaffee in den Adern. Und wenn ich nicht stehen bleibe und mich zu ihnen runterbeuge, dann schießen sie sich eine Kugel in den Kopf. Und ich soll's dann aufwischen und dabei an sie denken. Nein. Euer Blut spritzt nicht bis hoch in mein Gesicht. Ich bin nicht Kain, und ihr seid keine Abel. Dazu fehlt euch die Entschlossenheit. Ihr nehmt ein viel zu heißes Bad und verliert den Kopf mitsamt dem Leben. Ihr springt mir an den Rock und hindert meinen Lauf. 

PLESSING   Nur ein Pistolenlauf ist schnell genug, Sie einzuholen.

GOETHE   Hab Sie ins Herz gefasst wie einen Edelstein.

PLESSING   Warum?

GOETHE   Wir beide sind aus einem Teig, Sie waren nur nicht lang genug im Ofen.

PLESSING   Wenn das Paradies einen Eingang hat, dann stehen wir jetzt davor. Guck. Der Mond. Glatter Durchschuss. Die Kugel steckt. 

GOETHE   Plessing!

PLESSING   Jetzt bleibt mir nur noch Ihr Gesicht. Darf ich's behalten? Ich nehm' es mit hinüber.


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