Schuhe shoppen
Tim CrouchSchuhe shoppen
(Shopping for Shoes)
Jugendstück
Deutsch von Bernd Samland
1 D, 1 H, 1 Dek
Edda Poppinga geht in die achte Klasse. Sie ist noch nicht lange in der Stadt, noch nicht lange auf dieser Schule. Sie lebt zusammen mit ihrem Vater Harm – eine Art „Roter Radler“ und bei seiner Organisation Projektkoordinator – und ihrem älteren Bruder Onno in einem Mietshaus in der Königstraße. Die Mutter hat nach einem „Nervenzusammenbruch“, wie Harm es nennt, die Familie verlassen und lebt jetzt mit ihrem neuen dänischen Partner Gunnar in einer niederländischen Kommune. Offenbar auf ganzer Linie ein alternativer Familien-, ja Lebensentwurf.
Edda hat sich in Eduard Prinz verguckt, gemeinhin Eddie genannt. Der wohnt nicht nur in demselben Mietshaus, sondern ist in der Schule auch in ihrem Mathekurs. Doch Eddie hat nur Augen für seine Schuhe. Seine Kollektion umfasst an die sechzig Paar, von Adidas bis mindestens Nike. Zalando ist ja leider keine Schuhmarke. Und jeden Tag, jede Stunde steht er vor der Qual der Wahl. Und heute Morgen wählt er Nike Vapour Supreme. Doch bevor er sich auf den Schulweg macht, muss er noch seine kleine Schwester Letitia vor dem Kinderkanal deponieren und sie mit Keksen versorgen. Dann ab dafür zur Bushaltestelle.
Dort nimmt Edda allen Mut zusammen und quatscht Eddie an. Der fühlt sich sozusagen, wenn nicht gar sexuell, belästigt, dreht sich um und tritt mit voller Wucht, und das gleich drei Mal, in einen Riesenhundehaufen. Die Schuhe, immerhin mit seinem Namenszug geschmückt, sind für heute hinüber; damit kann er nicht in die Schule gehen. Und schuld daran ist natürlich Edda.
Die traut sich abends mit einem, von ihrem Vater abgelegten, Paar Schuhe zu Eddie; eine Art Wiedergutmachungsangebot. Und Eddies Mutter freut sich: Endlich steht mal ein Mädchen bei und für Eddie auf der Matte.
Eddie hat natürlich keine Augen für die abgelegten Latschen von Eddas Vater; aber zum Bowling mit Eddas Freundinnen lässt er sich überreden. Nur hat er nicht mit der zweiten Niederlage des Tages gerechnet: An der Garderobe muss er seine kostbaren Sneakers abgeben und sie gegen schreckliche Bowlingschuhe eintauschen. Was ihn aber nicht daran hindert, beim Bowlen sein Bestes zu geben und alle an die Wand zu kegeln.
Ein schöner Sommerabend geht zu Ende. Doch was ist das? An der Garderobe bekommt er seine eigenen Schuhe nicht zurück. Die schnappt sich Edda, und raus geht’s in die Sommernacht. Eddie, ganz von den Socken und auf Socken, immer Edda hinterher. Durch die schnieke Shoppingmeile bis hinaus auf eine Brücke, die über die Eisenbahn führt. Und da folgt Edda dem Nike-Slogan „Just Do It“ und schmeißt die an den Schnürsenkeln zusammengebundenen Luxussneaker hoch in die Luft; sie landen auf einem Telefondraht, der zwischen zwei Pfählen im Bühnenhintergrund gespannt ist. Und ihre eigenen Schuhe schmeißt sie gleich hinterher. Sie landen auch auf dem Telefondraht. Eddie kann es erst nicht fassen, doch dann erfasst es ihn. Liebe auf den zweiten Schuh zu Edda. Er ist von seiner Schuhfixierung geheilt.
Dein Schuh bist du. Du bist dein Schuh. Ein wahrhaft romantisches Märchen von heute, also ein Märchen aus der Warenwelt sehr junger Leute. Der erste Satz lautet: „’Es war einmal’, so fangen nach der Tradition solche Geschichten an. Aber es ist jetzt. Es geschieht jetzt.“ Den spricht die Performerin, der Performer, der einzige Mensch auf der Bühne. Der/die mit lauter Schuhen hantiert. Tim Crouch bleibt sich auch hier treu: den Gegenständen des täglichen Lebens mit spielerischen Mitteln, fast puppenspielerischen Mitteln, Leben einzuhauchen. Und damit der Verdinglichung menschlicher Beziehungen entgegenzuwirken. So dass Eddie begreift, das Leben hat mehr zu bieten als nur Markenartikel.
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