Träume

Sebastian Brauneis
Träume
Ein Schauspiel mit Musik
3 D, 4 H, 1 Dek
Für die einen ist Heimat so etwas wie eine „innere Schwerkraft“, etwas, das erdet und verortet. Für die anderen ist sie ein Klotz am Bein, die Bürde, die am Weiterkommen hindert. Fragte man Sandra und Martin, was ihnen Heimat bedeutet, würden sie einander vermutlich ratlos ansehen. Sandra und Martin sind auf dem Hof aufgewachsen, dem Hof ihrer Eltern, wobei letzteres zumindest für Martin keine Gewissheit ist. Irgendeinen Grund muss es schließlich geben, dass die Mutter ihn so schlecht behandelt. Denn der Vater war ein wilder Hund, damals, in den Achtzigern, als er mit dem Mercedes-Bus und den Schallplatten über Land gefahren ist und den Damen das Herz versprochen hat. Und dann noch die Tante – die Schwester. Über allem ein personifiziertes und ebenso an- wie abwesendes Erbteil. Denn es geht ums Haben durch ein Sein. „Wer mir als erste einen Schwiegersohn bringt, soll es sehr gut haben.“

Es ist ein einfacher Plattenspieler, um den sich die Figuren scharen, mit dem sie ihre Erinnerungen verbinden und auf den sie ihre unerfüllten Träume projizieren. Wenn er erklingt, wechselt das Blatt, jede Platte eröffnet eine neue Szene. Die Platten jedoch sind unbeschriftet, wie das Schicksal. Ihre Auswahl ist zufällig, und entsprechend gestaltet sich der Spielverlauf an jedem Abend neu.

„Nicht diese Lügen, Sandra! – Die anderen. Die schlimmen. Die schweren. Die, die einen enttäuschen, die einem die Worte nehmen. Ein Geheimnis, das nicht zwischen, sondern in den Menschen steckt, so besonders und wertvoll ist es. – Verstehst Du mich?“

„Träume“ erinnert an das populäre Genre „A Play with Songs“, weist aber in seiner Spielanordnung über die klassischen Spielkonventionen hinaus. Jeden Abend fallen die Würfel neu, wird das Fatum aktiv herausgefordert, setzen sich die Schauspieler einer überraschenden Biographie ihrer Figuren aus. Umso unmittelbarer erleben wir gemeinsam ihre und unsere „Träume“.

„Träume“ aber ist kein Wittenbrink-Abend. Hier wird nicht gemeinsam aus vollem Halse gesungen. So richtig musiziert einzig und allein der Plattenspieler. Die Machina also steht auf der Bühne, während „ihr“ Deus ungreifbar bleibt. Harmonie aus den Vinylrillen. Die gnadenlose Gerechtigkeit der reproduzierten und reproduzierenden Künste taktet als unerbittliches Metronom den Abend, das Erlebnis und die Figurenbeziehungen. Und die Musik ist nichts, was in der Gegenwart verbindet, sondern vielmehr etwas, das trennt. Perfiderweise vollzieht sich diese Trennung gerade über ihr Gegenteil: indem sie die gemeinsamen, ja glühenden Momente der Vergangenheit heraufbeschwört, erinnert sie an ein gewesenes Ich mit all seinen Träumen, Hoffnungen und Zukunftsgespinsten und lässt die innere Vereinsamung umso unmittelbarer erfahren. Denn der Zugriff auf diese einstige Identität ist verwehrt, die Zwischen-Zeit erweist sich als unüberwindlicher Block. Übrig bleibt ein Passé-Ich voller enttäuschter Möglichkeitsformen. Und genau darum ist „Träume“ ein Stück Zukunft.


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