Zart besaitet

Christophe Pellet
Zart besaitet
(En délicatesse)
3 Tage, 19 Szenen
Deutsch von Reinhard Palm
2 D, 3 H, Verw - Dek
Lucie Chasles, eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren, schwankt zwischen zwei Männern ihres Alters: Sandor Morestin oder Lucas Neveux? Sandor hat ihr vorgeschlagen, mit ihm die heimatliche Provinzstadt zu verlassen; Lucas, dessen Zukunft im Autoladen seines Vaters liegt, kann sich solche Träume nicht leisten. Für beide, merkt sie, ist ihre Liebe gleich, das heisst für keinen gross genug. Da taucht eine neue Unbekannte in der Gleichung auf: Nathalie Deltour, die um zwanzig Jahre ältere Frau, die von ihrer Lebenspartnerin verlassen wurde und nun in die Stadt ihrer Jugend zurückkommt.
Hier in dem Park, wo Kinder spielen und Paare sich und ihre Zukunft träumen, hat Nathalie als junge Mutter die Liebe zu einer Frau erkannt und Mann und Kind ohne Rücksicht auf Verluste verlassen. Hier in dem Park nun wiederholt sich die "surprise de l'amour" auf's Neue. Nathalie wird von der Liebe zu Lucie überfallen wie Sandor von Lucas' Kuss und Umarmung.
Zwei Monate später ist Sandor noch immer in der Stadt; sein Vater, Léonard Morestin, hat die Stelle verloren, und der Sohn verdient jetzt das Geld für den gemeinsamen Haushalt. Lucas, Lucie und Sandor sind einander näher gekommen, aber immer stört einer das "Glück zu dritt". Oder eine. Und wer weiss, ob Lucie Lucas nicht einfach benutzte, um schwanger zu werden und mit ihrer neuen Liebe Nathalie das zu tun, wovon Sandor träumte – fortzugehen: "Lucas verlasse ich, das Kind behalte ich." Die beiden Frauen verschwinden. Die Männer bleiben zurück. Nathalie ist Sandors Mutter und Ex-Frau von Léonard Morestin. Die Geschichte hat sich, mit unmerklichen Variationen, wiederholt.

Das Personal, ja sogar der "Plot" von Christophe Pellet's neuem Stück erinnern auf den ersten Blick an seine Trilogie DAS GIRAFFENKIND. Auch hier befinden wir uns in einer Kleinstadt, auch hier kann sich eine junge Frau so wenig zwischen zwei Männern entscheiden wie die beiden Männer "zwischen sich selbst". Auch hier spannt eine reifere Lesbe den ambivalenten Jungen die Frau aus, auch hier lässt sich die junge Frau schwängern, um mit ihrer älteren Partnerin eine andere Art von "Familie" zu gründen.
Und doch ist EN DELICATESSE der ebenso überraschende wie eigenständige Versuch, aus der Auflösung der sexuellen Identitäten neue Figuren und Konflikte zu schaffen. Je mehr sich die Konturen zwischen Mann und Frau verwischen, umso reicheren Stoff zieht Christophe Pellet aus dieser optischen Brechung für seine Dramen – szenische Versuchsanordnungen, die ihre Verwandtschaft zu Marivaux nicht verhehlen. "L'action vient de la construction", die Handlung folgt aus der Konstruktion, so Christophe Pellet, der sich – bei aller Unverwechselbarkeit – ebenso auf die dramatische Poesie Fassbinders beruft.
Die Geschichte wiederholt sich, weil sich die Familie wiederholt. Das ist eine der Grundthesen von Pellet's Schreiben: wieviel Freiheit schafft das Ausbrechen aus traditionellen Konstellationen, und wohin führt der Ausbruch, wenn nicht zur Wiederholung "unter anderen Vorzeichen"? Kann man die Wiederholung unterlaufen, indem man aus dem (freudianischen) Zwang zur (kierkegaardschen) Ironie wechselt, der gemäss die "eigentliche Wiederholung Erinnerung in Richtung nach vorn", d.h. Richtung Zukunft, ist?
Wenn es so etwas wie eine Novelle auf der Bühne gibt, hier ist sie in der konstatierenden, lakonischen Form der "unerhörten Begebenheit".

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