Crash 3597 - Eine unerhörte Begebenheit

Urs Jenny
Crash 3597 - Eine unerhörte Begebenheit
Sieben Szenen
2 D, 2 H, 1 Dek
An einem eisigen Januarmorgen ist der Crossair-Flug 3597 aus Berlin in der Nähe des Flughafens Zürich abgestürzt. Der zweistrahlige Jet, so melden die Presseagenturen, hat beim Landeanflug in dichtem Schneesturm eine Hügelkuppe gestreift und ist explodiert: 44 Tote, darunter eine mehr oder weniger berühmte Popsängerin.

24 Stunden später sind mit dem gleichen Crossair-Flug 3597 die ersten Hinterbliebenen aus Berlin in Zürich eingetroffen, wo sie von Betreuern der Flughafenpolizei in Empfang genommen werden. So begegnen sich – in einem ernüchternd kahlen Büroraum – der Augenarzt Burkhard Seitz, dessen Ehefrau und Praxispartnerin Marlis zu den Absturz-Opfern gehört, und die Modegeschäftsfrau Constanze Vonderthann, die ihren aus Ungarn stammenden Mann Alex verloren hat. Befangen in ihrem Leid mustern sie einander aus vorsichtiger Distanz.

Um die beiden bemüht sich einerseits der in Routine kahl gewordene Polizeihauptmann Zbinden, seine Ratlosigkeit vor dem Schmerz der Überlebenden hinter der Umstandskrämerei einer "bürokratischen Aufarbeitung des Unglücks" verbergend, und andererseits die junge Polizeipsychologin Marguerite Wyss, die besten Willens ist, den Leidtragenden mit Fürsorge und Mitgefühl beizustehen, "damit sie nichts Unüberlegtes tun". Dass die beiden Uniformierten ihrer Aufgabe wenig gewachsen sind, zeigt sich rasch: Während Dr. Seitz, der sich selbst Schmerzlosigkeit verordnet hat, unter dem Einfluss von Tranquilizern zu delirieren beginnt, stellt Constanze Vonderthann, mit der Wucht der verweifelten Witwe auftrumpfend, die Frage nach der Schuld und fordert Rache.

Was kann Trauerarbeit sein? Welche Nähe, welche Zuneigung kann aus einer Situation erwachsen, für die es erst einmal keinen Begriff gibt? Satz um Satz tritt aus kleinen Hilflosigkeiten, Missverständnissen, Unmöglichkeiten – als Kehrseite der Verzweiflung, mit dem Entsetzen scherzend – eine erlösende Komik hervor. Was in der ersten Sekunde die Katastrophe zu krönen scheint, erweist sich schon in der zweiten paradoxerweise als befreiend: Die Entdeckung, dass Marlis Seitz und Alex Vonderthann als heimliches Liebespaar aus ihren Ehen geflohen sind.

Auf einen Schlag müssen Witwe und Witwer, die trauerbleichen Hinterbliebenen, sich als Verratene und Betrogene erkennen: Das Bild ihrer Ehen, in denen sie sich sicher geglaubt hatten, ist wie ein Kartenhaus zusammengeklappt; aus dem Stand heraus müssen sie ein neues von sich selbst und ihren Partnern entwerfen. Welche Neugier hat Marlis – abgesehen von ihrer Neigung zu asiatischer Küche und asiatischem Kunsthandwerk – umgetrieben? Und welche unentdeckten Interessen hat der allzu charmante Radsport-Enthusiast und Luftikus Alex heimlich verfolgt?

Trauerarbeit als Überlebensmaßnahme: Ein Stück, das mit dem Flor der Betretenheit zu beginnen schien, entpuppt sich von Szene zu Szene lustvoller als Charakterkomödie. Auf der einen Seite der untadelige Facharzt und Frauenversteher Burkhard, auf der anderen die berlinerisch temperamentvolle Businessfrau Constanze: Erzählend scheinen sie Gemeinsamkeiten zu entdecken. Naturgemäß richtet sich ihre Erinnerungs- oder Phantasiearbeit auf den Augenblick, wo Marlis und Alex einander zuerst begegnet sind (im Hauptbuch des Schicksals könnte dieser Augenblick als "Crash 3596" vermerkt sein), und komödiengemäß scheint, was auf der Bühne verhandelt wird, auf einen "Crash 3598" zuzusteuern. Constanze: "Sagen wir mal: Man muss ja nicht an die Liebe glauben, um sich für sie zu interessieren."

Die beiden zufälligen Zeugen dieser unerhörten Begebenheit – der schweizerisch-melancholische Dienstvorschriftshüter Zbinden und die attraktive junge Psychologin Wyss, die ihren Berufsfrust durch überraschenden Sinn für Extravaganzen kompensiert – werden rasch so tief in den Wahrheitsfindungs-Prozess hineingezogen, dass man sagen kann, dieses Stück, das vor allem ein Stück für Schauspieler sein will, habe vier Hauptpersonen.



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