Abends am Fluss
Gero TroikeAbends am Fluss
Auch Libretto der gleichnamigen Oper
Von Johannes Harneit
6 Schauspieler, Verw - Dek
Gero Troike
DOLGENSEE, EIN NATURALIST
HOCHWASSER
ABENDS AM FLUSS
Die Titelfigur aus "Dolgensee, ein Naturalist", der Maler Dolgensee, geht am Vorabend seines Geburtstags auf die Straße, es schneit, es ist Winter, er hat einen Koffer bei sich und beabsichtigt, eine große Reise zu unternehmen, er will nach Chicago. In der Schule habe ich immer die Lehrer darauf hingewiesen, wenn ich Geburtstag hatte. Man wurde nachsichtig, freundlich behandelt. Was Dolgensee sagt, im ersten Bild, wenn er auf Anna-Maria trifft, die ihm im Weg steht: "Morgen habe ich Geburtstag, da komme ich auf dumme Gedanken", das geht mir noch immer so. Man ist da, vorher gab es einen nicht, und irgendwann ist man nicht mehr da. In meinem Theaterstück steht Dolgensee am Vorabend seines Geburtstages "Auf einer Schlidderbahn unter einer Gaslaterne".
Kindheit und Erwachsensein sind in einem Bild erfasst. Eigentlich schliddern Kinder auf so einer Bahn, und am Abend, wenn die Laternen angehen, müssen sie ins Haus. Dolgensee, ein erwachsener Mann, genießt es für einen Augenblick, Kind zu sein. In der Berliner Aufführung am Deutschen Theater fielen auch noch Schneeflocken, und ein Musiker spielte auf einem Spielzeuginstrument für Kinder eine einfache Melodie.
Die Spielorte in meinen Theaterstücken "Abends am Fluss", "Hochwasser" und "Dolgensee, ein Naturalist" sind Orte, die in mir ein eigenartiges Gefühl auslösen. Der Keller in "Hochwasser", in dem seit zwanzig Jahren der leichte auf dem schweren Koffer steht, ist für mich ein sehr geheimnisvoller Ort. Hier ist es fast immer dunkel, man sieht alle Gegenstände nur andeutungsweise, das schärft die Sinne, man sieht genauer hin, man hört jedes Geräusch, es entsteht eine Konzentration und es entsteht ein "Raum für Phantasien".
In "Abends am Fluss" ist der Fluss in der Nähe einer großen Stadt, der ein ähnlich magischer Ort ist. Man steht da, sieht in das Wasser, das langsam und gleichmäßig an einem vorbei zieht. Auch hier kommt man in einen Zustand, der, vorsichtig formuliert, Vieles möglich macht.
Dabei glaube ich nicht, dass meine Theaterphantasie aus Bildern entsteht. Ich formuliere Dinge, die nur von mir benannt werden, die ich für sehr wichtig halte. Der erste Satz in "Dolgensee, ein Naturalist" ist ja: "Gehen Sie bitte zur Seite, ich fahre ins Ausland." Dieser Satz war damals in der DDR schon eine Ungeheuerlichkeit. Zum Glück habe ich diesen Satz nie als Provokation empfunden, weil er wirklich nicht provokant gemeint war. Aber er brachte die Sehnsüchte von Millionen von Menschen zum Ausdruck. In meiner Malerei beobachte ich etwas Ähnliches, ich male Gegenstände, die ich wichtig finde, die mich beschäftigen, man könnte auch sagen, die ich liebe. Ich bin überzeugt, dass jener Satz so viele Jahre nach der Maueröffnung immer noch Sprengkraft hat; denn die Reise, die Dolgensee vorhat, ist in keinem Reisebüro der Welt zu buchen.
Über meine Theaterfiguren zu sprechen, ist noch schwerer. Was für eine Figur ist der Spaziergänger in der Friedhofszene? Wer kann selber erklären oder beschreiben, wer er ist? Meist ist eine Figur der Gegenpol zu einer anderen. Der Spaziergänger ist eine sehr geheimnisvolle Figur: "Ich komme aus einem fernen Land, versuchsweise." Versuchsweise! Da ist eine große Unsicherheit, er bewegt sich sehr langsam und vorsichtig. Es war wunderbar, der Schauspieler, der den Spaziergänger spielte, nahm seine Rolle so ernst, dass es immer ein Geheimnis blieb, wir haben nie erfahren, aus welchem fernen Land er zu uns gekommen ist. Und der pensionierte Fahrstuhlfahrer, die tote Frau, das Wunderkind, der tote Hund, die beiden Koffer? Man muss sie zum Leben erwecken, es lohnt sich. Über die Figuren aus "Dolgensee, ein Naturalist" zu sprechen, fällt mir einfach leichter, denn ich bin ihnen auf dem Theater schon begegnet.
(Gero Troike)
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