Der verratene Verräter
Pierre CorneilleDer verratene Verräter
(La veuve ou Le traître trahi)
Komödie in 5 Akten
Deutsch von Rainer Kohlmayer
4 D, 5 H, 1 Dek
Der schüchterne Philiste und sein hinterhältiger Freund Alcidon lieben beide die junge reiche Witwe Clarice; Alcidon macht aber aus taktischen Gründen Philistes Schwester Doris heuchlerisch den Hof, die wiederum sowohl von dem steinreichen Florange wie auch von Alcidons Freund Celidan verehrt wird. Mit Hilfe von Celidan entführt Alcidon Clarice, wird aber schnell von Celidan durchschaut und souverän ausgetrickst, sodass sich am Schluss die „wahren“ Liebenden kriegen.
Mit diesem (seinem zweiten) Stück schaffte der 25jährige Pierre Corneille den Aufstieg an die Spitze der Komödiendichter in Paris und schuf einen realitätsnahen Komödientyp, der unmittelbar auf Molière und Marivaux vorauswirkte.
Die Komödie besticht mit differenzierter Beziehungs-Thematik, mit sozialem und sprachlichem Realismus, mit psychologisch vertiefter Charakterzeichnung, mit einem Plot voller Überraschungen.
Im Vorwort des Erstdrucks wies Corneille darauf hin, dass er drei Typen von Liebe darstelle, die im wirklichen Leben oft, auf der Bühne aber nie vorkämen. Einmal das gegenseitige Sichbelügen des Pärchens, zum andern die asymmetrische Liebe zwischen der höhergestellten Frau und dem sozial abhängigen Mann (der erst ganz am Schluss das vertrauliche „Du“ der Frau zu übernehmen wagt); schließlich auch der angelesene Kitsch des Universitäts-absolventen, der die Liebe nur aus Büchern kennt.
In den Komödien Corneilles (siehe Der extravagante Liebhaber und Der Lügner) gibt es nicht, wie später bei Molière, den Räsoneur, der als ruhender Pol und moralische Instanz die Stimme der Vernunft vertritt. Es herrscht ein erstaunlich modernes Durcheinander von Leidenschaften, von Verrat, Willkür und Egoismus.
Philiste spricht die Ansicht des jungen Corneille deutlich aus: „Was nützt es, wenn man weint, / machen wir’s Beste draus, ein Chaos ist die Welt, / ein wildes Durcheinander, jede Ordnung fehlt, / und Besserungsvorschläge nützen einen Dreck. / Drum, lieber Freund, hat es wahrhaftig keinen Zweck, / die Korruption der Welt zu geißeln, nur das eigne Handeln / gehört uns ganz. Wir können nicht die Welt verwandeln.“
Gewiss, es werden auch einzelne Übel benannt, die dem Glück der Menschen im Weg stehen – wie die Macht des Geldes, die Macht der Eltern über die erwachsenen Kinder, die Unterwürfigkeit unter Höhergestellte, die kommunikativen Schranken zwischen den Geschlechtern und den Menschen überhaupt. Es gibt auch einzelne Szenen, die weit voraus in die Zukunft weisen – zum Beispiel, wenn die Frau gegenüber dem schüchternen Freund die Initiative zur Liebeserklärung ergreifen muss – oder wenn das brave Töchterchen darüber nachdenkt, weshalb sie die eigene Unmündigkeit erträgt. Celidan ist ein sehr menschlicher Deus ex machina, der zuerst zum leichtgläubigen Werkzeug des Verräters wird, danach aber, machiavellistisch agierend, durch „das eigne Handeln“ in seinem engen Umkreis das größtmögliche Glück herbeiführt.
Die eigentliche Komik ist den Nebenfiguren überlassen. Da ist die herrlich abgefeimte Amme von Clarice; da ist die liebevoll-berechnende Mutter von Philiste und Doris, die den Reichtum über alles andere stellt, obwohl ihr eigenes Lebensglück auf diese Weise zerbrochen war, wie man in einer ergreifenden Szene von ihr erfährt; da ist der geschäftstüchtige Heiratsvermittler, aus dessen Worten man ein geradezu kabarettistisch-komisches Porträt des nicht selbst auftretenden Florange erhält.
In den frühen Komödien verarbeitet Corneille auch die eigene traumatische Erfahrung, seine große Jugendliebe (Catherine Hue aus Rouen) an einen reicheren Bewerber verloren zu haben. Das Stück, dessen Szenen und Akte sprunghaft gereiht sind, verrät die Kühnheit und das Herzblut eines genialen jungen Dramatikers, der auf den deutschen Bühnen (bisher) nur als marmorner Klassiker bekannt ist.
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